Drittes Kapitel

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Nach mehreren Minuten erklang das Geräusch eines Flügels und ich schaute mich suchend um. Die Gäste machten sich langsam auf den Weg zum hinteren Garten. Ich holte tief Luft und suchte die Menge nach meinem Bruder ab. Er war nirgends. Selena konnte ich auch nicht finden. Bestimmt hatte sie sich entfernt, als ich mit dem Prinzen abgelenkt war. Die einzige Person, die ich auf Anhieb fand, war Lucas, der nun bei seiner Mutter stand. Mit schnellen Schritten ging ich zu ihm und seiner Mutter, die sich leise unterhielten, und reihte mich neben ihnen ein.

Lucas warf mir einen überraschten Blick zu und deutete mit dem Kopf auf die Spitze der Gruppe. „Müssen Sie nicht nach ganz vorne?" Ich nickte. „Eigentlich schon, aber ich konnte meinen Bruder bisher nicht finden", antwortete ich.

„Aber Sie müssen doch an die Spitze der Gruppe. Soll ich Sie begleiten?"

Mir war klar, was er mir damit anbot. Er würde Haltung bewahren müssen und die ganze Zeit bei mir stehen bleiben, selbst wenn ich anfing zu weinen, musste er stehen bleiben. „Sind Sie sicher, dass Sie mir das anbieten wollen?", fragte ich.

„Absolut."

Er hielt mir seinen Arm hin, bei dem ich mich einhakte, und entschuldigte sich bei seiner Mutter. „Ich bin stolz auf dich", meinte Königin Diana zu ihrem Sohn. Lucas drückte ihr einen Kuss auf die Wange und führte mich zum Anfang der Gruppe. Ganz vorne lief Kira, meine Vertreterin und erste Zofe. Es war sehr ungewöhnlich, dass eine Zofe noch andere Aufgaben hatte, außer die Ankleidung und Zufriedenstellung ihrer Königin bzw. Prinzessin. Doch Kira war mir so ans Herz gewachsen, dass ich sie zu meiner Stellvertreterin ernannt hatte.

Als sie mich und Prinz Lucas nun sah, ließ sie sich in die zweite Reihe zurückfallen und überließ uns die Führung. Mein Herz begann wie wild zu hämmern und ich krallte mich in Lucas Arm. Dann starrte ich auf den Sandweg und konzentrierte mich darauf, nicht mit meinen Pumps im Sand hängen zu bleiben.

Durch meinen Kopf schossen unendlich viele Gedanken und Fragen. Wo war mein Bruder? Wo war Juliet? Wo war Selena? Und was wollte Lucas damit erreichen, mir einen so großen Gefallen zu tun? Versuchte er mich etwa für sich zu gewinnen? Ich warf dem Prinzen einen Blick zu. Er sah wirklich sehr gut aus, doch ich kannte ihn ja gar nicht. Manchmal war er auf den Veranstaltungen von meinem Vater gewesen. Vater! Wo war er eigentlich? Höchstwahrscheinlich war er schon am Ziel dieses Trauerzugs.

Kaum hatte ich daran gedacht, bogen wir um die Ecke und mein Blick heftete sich auf den Anlass des heutigen Tages: In der Mitte des Gartens war ein kleiner Podest aufgebaut worden, auf dem ein schwarzer Sarg stand.

Augenblicklich stiegen mir Tränen in die Augen und ich musste mich sehr stark beherrschen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen. Lucas tätschelte meinen Arm und drückte mich näher an sich. Ich ließ es zu und war dankbar für seinen Trost.

Das Geräusch des Flügels verklang und ich stellte mich direkt vor den Sarg. Auf dem Kasten lag ein riesiges Blumengesteck und mehrere Bücher. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Sie hatte Bücher geliebt. Immer und immer wieder hatte sie mir von ihnen erzählt und von den Charakteren geschwärmt. Dabei fühlte man sich so, als wäre man Teil des Buchs.

Neben dem Sarg stand eine hellbraune Staffelei mit dem Bild einer Frau. Der Frau. Sie hatte blasse Haut, Sommersprossen und einen Schönheitsfleck unter dem rechten Auge. Ihre blonden Haare wellten sich um ihr ovales Gesicht, in dem ihre grünen Augen vor Freude strahlten. Sie hatte ein wunderschönes Lächeln auf den Lippen und man konnte regelrecht erkennen, wie sehr sie ihr Leben geliebt hatte.

Down von Jason Walker riss mich aus meinen Träumereien und ich bemerkte, dass mir Tränen das Gesicht herunterliefen. Dieses Lied war ihr liebstes gewesen. Sie hatte es so oft gehört. Wenn sie traurig war, wenn sie sauer war, wenn sie sich beruhigen musste und wenn ich mit ihr gespielt hatte. Dieses Lied umfasste ihr Leben.

I thougt, I could fly, so why did I drown?

It's coming down, down, down..."

Als das Lied verklungen war, schloss ich die Augen und verabschiedete mich leise von der Frau, die hier vor mir in diesem schwarzen Sarg lag.

Ich öffnete die Augen wieder und sah rechts neben dem Sarg einen muskulösen Mann mit dunkelblondem Haar und grauen Augen. Er formte die Worte „Es tut mir Leid." Ich nickte. Eigentlich hätte ich Dean sauer sein müssen, doch dafür hatte ich nicht mehr die Kraft. Ich lehnte mich ein wenig gegen Lucas. Dieser schaute kurz auf mich herab, da ich ein wenig kleiner war als er, und verlagerte dann sein Gewicht auf seine linke Seite, sodass ich meinen Kopf gegen seine Schulter lehnen konnte.

Der Pfarrer ging die Stufen des Podestes hoch und stellte sich davor. Dann nahm er die Bücher und das Blumengesteck vom Sarg, den er nun öffnete. Den meisten Teil, der folgenden Rede, hörte ich nicht. Doch der letzte Satz blieb in meinem Gedächtnis hängen: „Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub."

Dann durfte jeder die Stufen des Podestes hinaufsteigen und sich von der bildhübschen Frau verabschieden. Viele Menschen traten an den Sarg und wünschten der Toten eine gute Reise. Irgendwann trat Dean vor und schritt die Stufen hoch. Oben schaute er lange in den Sarg, bis er sich vorbeugte und die Wange der wunderschönen Frau küsste. Mit roten Augen drehte er sich wieder um und stellte sich auf seinen Platz. Lucas ruckelte mich leicht an und ich stellte mich wieder gerade hin. Ich war an der Reihe.

Mit schweren Schritten begab ich mich zur Treppe. Schmerzhaft verkrampfte sich mein Herz. „Ich kann das nicht", flüsterte ich und sah Lucas hilfesuchend an. Er drückte meine Hand, die immer noch auf seinem Arm ruhte, und sah mich mit einem Blick an, der sicherlich Metall zum Schmelzen hätte bringen können. Seine blauen Augen folgten meinen Gesichtszügen und ich atmete scharf ein. Dann schaute ich wieder zum Sarg und schloss abermals an diesem Tag die Augen.

Ich musste sie gehen lassen.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die erste Stufe und öffnete meine Augen wieder. Lucas schob mich leicht vorwärts und ich erklomm die Treppe erfolgreich.

Dann trat ich zum Sarg.

Zum Sarg meiner Mutter.

Torn PrincessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt