Es war wie Magie

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*Rose*

„Mama. Erzählst du mir etwas über Papa?" bat mich Jonah leise, als ich ihn liebevoll zudeckte. Schmunzelnd strich ich ihm durch die Haare. Er liebte die Geschichten über seinen Papa. Er wollte sie zu jeder Tageszeit hören.

„Was möchtest du denn hören?" fragte ich ihn und legte mich zu ihm.

„Alles" grinste er mich unschuldig an und leise musste ich lachen. Schnell kuschelte er sich an mich und sah mich aus seinen großen Augen an. Sie erinnerten mich so sehr an ihm. Sanft strich ich ihm durch sein volles, braunes Haar.

„Dein Papa ist, neben dir, der wundervollste Mensch für mich. Der wundervollste Mensch auf dieser Welt. Er kam in mein Leben, als ich noch jung und unreif war. Er hat mich erfüllt und einen viel, viel besseren Menschen aus mir gemacht. Wir hatten nur wenig Zeit für uns, doch sie war so wunderschön. Voller Liebe und Hingabe. Voller Vertrauen und Gefühl. In dir" lächelnd tippte ich gegen sein Herz, „In dir sind unsere beiden Persönlichkeiten perfekt vereint. Unser Herz, unsere Seele, Humor, Großzügigkeit, Kampfwillen, Respekt und eine Million anderer Dinge, die an uns nett sind. Wir wären nicht dieselben, ohne einen von uns. Und das wächst immer weiter. Jeden Tag muss ich an sein Lächeln, an seine Augen und an seine Stimme denken. Jeden Tag wird mir aufs neue klar, wie sehr ich ihn brauche und wie sehr ich ihn liebe. Jeden Morgen sehne ich mich nach seiner Liebe und seiner Nähe. Nach seinen Berührungen. Er hat mir das wunderbare Gefühl vermittelt, einzigartig für ihn zu sein. Es war wie Magie. Und wie Magie fühlt es sich immer noch an. In so vielen Punkten erinnerst du mich so sehr an ihn. Wenn du mich anlächelst. Wenn du mich aus deinen großen, wachen Augen anschaust. Dein misstrauischer Blick, wenn wir Fremden begegnen. Wenn du dich, so wie jetzt, an mich kuschelst und es genießt, wenn ich dich streichel. Du bist wie eine Kopie von deinem Papa. Mit einer extra Portion von dir gemischt. Und das macht dich ebenfalls zu etwas ganz Besonderem" lächelte ich ihn liebevoll an.

„Papa muss der allertollste Mann auf der Welt sein" felsenfest davon überzeugt nickte er heftig, „Ist mein zweiter Name deswegen der gleiche wie Papas?".

„Ganz genau. Ich weiß, du kennst deinen Papa nicht. Du weißt nicht, wie er aussieht. Du weißt nicht, wie er ist war und ist. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich alles dafür tun werde, dass wir ihn finden. Dass du die Chance hast, deinen Papa kennenzulernen. Dass er endlich von dir erfährt" erwiderte ich leise.

„Glaubst du, Papa hat mich dann auch lieb?" fragte er leise. Ich wusste, dass er Angst hatte, es könnte nicht so sein.

„Weißt du, manchmal reagieren wir Menschen etwas blöd, wenn wir Neuigkeiten erfahren. Ich kann mir gut vorstellen, dass es erstmal ein Schock für ihn ist... Aber wenn er sich erstmal an den Gedanken gewöhnt hast, dass du da bist, wird er sich bestimmt freuen. Und wie könnte man dich nicht liebhaben" lächelte ich ihn aufmunternd an. „Und nun wird geschlafen. Wir haben Morgen einen weiten Weg vor uns. Schlaf schön und träum was Schönes" lächelnd gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, deckte ihn noch einmal liebevoll zu und verließ leise das kleine Schlafzimmer in der Hütte.

Setzte mich draußen auf die Veranda und atmete tief die Nachtluft ein. Es war mitten im Sommer. Es war noch immer drückend heiß und mir lief der Schweiß an meiner Stirn herab. Mit meinem Handrücken wischte ich ihn ab. Es war jetzt 3,5 Jahre her. Verflucht lange 3,5 Jahre. Es verging keine Sekunde, an der ich nicht an ihn dachte. An der ich nicht sein Lächeln vor mir sah. An der ich nicht seine hellblauen Augen vor mir sah. An der ich nicht seine leicht angeraute Stimme in meinen Ohren hörte.

Vielleicht war es damals doch ein Fehler, dass ich nicht mit ihm mitgefahren bin. Vielleicht war es damals doch ein Fehler, dass er nicht bei mir geblieben ist. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht wären Jonah und ich heute dann nicht auf der Flucht. Auf der Flucht vor meiner alten Gruppe. Doch damals hielt ich es für die richtige Entscheidung. Ich konnte ihn nicht begleiten. Ich musste erst noch etwas erledigen. Etwas sehr wichtiges für mich. Niemand hätte mich davon abhalten können. Aber vielleicht hätte er mir dabei helfen können. Seufzend rieb ich mir durchs Gesicht. Hätte, wäre, wenn. Was spielt das schon noch für eine Rolle? Ich glaubte fest daran, dass er noch lebt. Das wir ihn finden werden. Doch wer weiß, was dann sein wird. Ich verriegelte von innen die Tür und legte mich zu Jonah. Das Messer immer in Reichweite.

Am nächsten Mittag, die Sonne schien heiß auf uns herab, waren wir schon etliche Stunden unterwegs. Meine Füße schmerzten. Meine Lunge brannte. Mein Körper verlangte nach Wasser. Mein Körper verlangte nach einer Pause. Doch die gönnte ich uns nicht. Jede Pause warf uns zurück. Jede Pause brachte sie uns näher und das durfte ich auf keinen Fall zulassen.

„Mama, ich kann nicht mehr" klagte Jonah leise sein leid. Ich reichte ihm die Wasserflasche. Gierig trank er, während ich nur ein paar wenige Schlucke trank. Wir mussten eine Weile mit dem wenigen, was wir bei hatten, auskommen. Als wir fertig waren, schulterte ich meinen schweren Rucksack richtig und nahm Jonah auf den Arm. Er legte seine kleinen Ärmchen um mich und kuschelte sich an.

Im Schatten der Bäume lief ich weiter die schier endlose lange Asphaltstraße entlang. Nur ein paar Minuten später vernahm ich den gleichmäßigen Atem von ihm. Er konnte genauso schnell einschlafen wie sein Papa, dachte ich schmunzelnd bei mir. Er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche volle braune Haar, mit einem leichten roten Stich, wenn er im Licht steht. Er ließ es wachsen. Er wollte genauso lange Haare wie sein Papa haben. Es ging ihm schon bis über die Ohren und er war so verdammt stolz darauf.

Die gleichen wunderschönen hellblauen, wachen Augen. Neugierig erkundeten sie die Welt. Sahen schon viel zu viel grausames in ihr. Doch bemühte ich mich sehr, ihm auch die schönen Dinge zu zeigen. Eine sternenklare Nacht. Einen Regenbogen. Die Tautropfen am frühen Morgen auf den Blättern. Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge. Blühende Blumen auf einer saftig grünen Wiese. Zwitschernde Vögel. Pfützen, die zum reinspringen aufforderten. Schnee, mit denen man einen Schneemann bauen konnte. Schnee, aus denen man einen Schneeengel machen konnte. Es war mir wichtig, dass er das alles kennenlernt. Dass er sowas sieht. Dass er niemals den Blick für die kleinen, schönen Dinge im Leben verliert. Dass er an ihnen festhalten kann, wenn es schwer wird.

Seine vollen Lippen. Lippen, die das gleiche verschmitzte Grinsen draufhaben, wie sein Papa. Ein Mund, der genauso wunderschön Lächeln kann. Viele neugierige Fragen verlassen ihn. Möchten alles wissen. Möchten alles verstehen. Möchten alles nachvollziehen können.

Ein leises rascheln ließ mich aufhorchen. Sorgsam schaute ich mich um. Vereinzelt folgten uns ein paar Beißer, doch sie konnten kaum Schritt halten, so ignorierte ich sie. Doch das rascheln kam definitiv nicht von ihnen. Doch konnte ich niemanden sonst erkennen. Ein ungutes Gefühl beschlich mich und ich beschleunigte meine Schritte.

„Sind sie das?" fragte mich Jonah leise verschlafen und die Angst in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Ich glaube nicht" erwiderte ich flüsternd und strich ihm beruhigend über den Rücken. Beschleunigte mein Tempo noch einmal, denn ich war mir gar nicht so sicher, wie ich es Jonah versuchte glaubhaft rüberzubringen. Wieder war ein rascheln zu hören. Doch diesmal klang es schon etwas lauter. Schnell schlüpfte ich hinter einen dicken Baum und setzte Jonah ab. Er wusste, dass er leise sein musste. Ich wusste auch, dass er Angst hatte, aber er war Tapfer. So unglaublich tapfer. Das rascheln kam näher und näher. Ich zog mein Messer heraus und hielt es fest umklammert, während ich Jonah vorsichtig hinter mich schob.

„Buh" vernahm ich die mir nur allzu bekannte Stimme, doch bevor ich reagieren konnte, wurde alles schwarz um mich herum.

„Mama!" hörte ich noch Jonahs verzweifelten Schrei, wie aus weiter Ferne. Dann bekam ich nichts mehr mit.

Bleib hier! (Carl Grimes, The walking dead FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt