Eine langwährende Fahrt

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Der 1. September war für die meisten Kinder im groben Alter von elf Jahren ein ganz besonderer Tag: Sie würden an eine neue Schule kommen. Mit oder ohne Freunde, die sie bereits aus der Grundschulzeit kennen. Mit oder ohne Angst vor dem Neuen.
Doch einige dieser Kinder traf ein besonderes Schicksal. Sie sollten an jenem Tag mit einem scharlachroten Express nach Nordschottland fahren, da sie zum neuen Jahrgang von Hogwarts gehörten.
Zwischen den vielen Eltern und Koffern, die sich am Abfahrtgleis neundreiviertel nur so sammelten, standen sie und betrachteten den Hogwarts- Express voll Erfurcht oder Freude. Diese Eisenbahn sollte sie zur neuen Schule und vor den Weihnachtsferien nicht mehr zurück fahren. In dem Express selbst waren die meisten Abteile schon von älteren Schülern und deren Gepäck besetzt, jedoch war eines noch vollkommen frei.

Das dritte Abteil des dritten Waggons beherbergte bisher noch keine einzige Person, doch das sollte sich bald ändern: Auf dem Gang lief ein junges Mädchenmit wuschigem Haar langsam an den Abteilen vorbei, mit der Hoffnung, eines zu finden, in dem sich noch keiner befand. Lynn musste sich nämlich eingestehen, dass sie durch die neue Umgebung und durch Schüler, die wagemutig mit Zauberstäben wedelten, durchaus verunsichert war. Sie war noch nie gut darin, mit Leuten zu sprechen, die ihr vollkommen unbekannt waren und jetzt sah es für sie ganz so aus, als müsse sie genau das tun. Ihre Gedanken spielten schon mit den ein oder anderen Möglichkeiten, zu fragen, ob sie sich wohl setzen dürfte. Jedoch sollte sie diese nie anwenden.
„Perfekt." sagte Lynn leise zu sich selbst, als sie das bereits erwähnte, leere Abteil erblickte. Ihr gesamtes Gepäck, bestehend aus einem riesigen Koffer, deponierte sie rasch in einem an der Abteildecke befestigten Halter, sodass sie sich entspannt hinsetzen konnte. Sie verweilte ein wenig auf ihrem erwählten Fensterplatz und schaute sich die Menge an, die über das Gleis verteilt stand. Ihr Blick hielt bei ihren Eltern an, die anscheinend auch Ausschau nach Lynn hielten. Sie klopfte gegen die Scheibe, jedoch reagierten sie nicht. Es mag eventuell daran gelegen haben, dass sie um die zehn Meter von Lynns Fenster entfernt standen und draußen ein unglaublicher Geräuschpegel herrschte. Nach mehreren Versuchen, die Aufmerksamkeit ihres Dads und ihrer Mutter zu erlangen, glückte es sogar. Die beiden drehten sich in Richtung des durch Lynn ertönten Geräusches und erblickten ihre Tochter.
Das hätte sie nicht tun sollen. Nun wollte sie nur noch im Erdboden verschwinden.
Mr. Und Mrs. Young winkten wie verrückt und ihre Abschiedsrufe waren selbst durch die Glasscheibe der Bahn zu hören. Sie drängten sich durch die Zauberer, Hexen und Muggel, bis sie endlich bei ihrem Mädchen ankamen.
Lynn deutete ein „Hallo" mit ihren Lippen an, während sie sich schnell visuell erkundigte, ob die halbe Aufmerksamkeit des Gleises noch auf ihnen lag. Nein. Alle hatten bereits etwas viel besseres zu tun: Sie wedelten hecktisch mit dem ein oder anderen Taschentuch, winkten lediglich, oder riefen ihren Kindern, so gut es eben ging, etwas zu, denn der Hogwarts-Express hatte sich bereits in Gang gesetzt.
Ein wenig verängstigt blickte Lynn zu ihren Eltern, die bereits immer kleiner wurden und schenkte ihnen ein letztes Lächeln, bevor sie nicht länger zu sehen waren.

Sie hatte eigentlich vor, ihre Blicke noch ein geraume Weile der sich nun präsentierenden Landschaft hinter dem Fenster zu widmen, doch kam gar nicht erst richtig dazu, als ein „Hi!" erklang.
Das Mädchen, das sich gerade geäußert hatte, stand mit zwei Büchern im Arm und mit einem Koffer, der beinahe größer als Lynns war, im Schlepptau in der Türe des Abteils und blickte sie erwartungsvoll an. Lynn selbst sagte jedoch kein einziges Wort. Stattdessen verließ nur ein gerauntes „Äh" ihren Mund.
„Darf ich mich setzen?" half das dunkle Mädchen mit den Büchern ihr weiter. Sie hatte kurzgeschorenes Haar und große, runde Augen, die Lynn entfernt an die von Rehen erinnerten.
„Oh, natürlich." entgegnete sie dem Mädchen.
„Ich bin Anastasia." sagte ebendiese und ließ sich gegenüber von Lynn in der umgekehrten Fahrtrichtung nieder.
„Lynn."
Anastasia legte eines der Bücher auf den Sitz neben sich und schlug das andere auf, welches den Titel 'Tom Sawyer' trug. Es schien ganz so, als bräuchte sie nicht länger als einige Sekunden, um ihre komplette Konzentration auf den Roman zu richten.

Lynn verbrachte die nächsten paar Minuten damit, die Schüler zu beobachten, die auf dem Gang umherschritten um noch nach einem Sitzplatz suchten, aber abgesehen von dem Jungen, der nun schon zum zweiten Mal am Abteil vorbeilief, war nichts allzu auffällig. Sie seufzte leise -Anastasia war weiterhin in ihr Buch vertieft- bei dem Gedanken an die Banalität dieser Situation. Eigentlich hätte sie auf eine ganz norale Schule gehen sollen. Mit ganz normalen Leuten und Schulfächern. Jetzt saß sie in einer scharlachroten Eisenbahn auf dem Weg zu einer Schule, die sich Hogwarts nannte und junge Hexen und Zauberer in Dingen wie 'Kräuterkunde' und 'Verwandlung' unterrichtete.

Und ein weiteres Mal wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
„Entschuldigung?" sagte ein Junge in dem Alter der beiden sich im Abteil befindenen Mädchen.
Lynn schaute ihn erwartungsvoll an, während Anastasia nicht einmal ihren Blick von 'Tom Sawyer' löste.
„Wisst ihr, wo das Slytherin-Abteil ist? Ich laufe hier schon zum vierten Mal lang." Der Junge schien regelrecht verzweifelt zu sein.
„Zum dritten Mal." korrigierte Lynn ihn, als sie bemerkte, dass es er derjenige war, den sie bereits mehrmals hatte vorbeilaufen sehen. „Und was ist Slytherin?"
Nun ließ Anastasia schließlich doch ihren Roman sinken. „Slytherin ist ein Haus für die, die denken sie seien besser als alle anderen."
Der Junge geriet in eine Art Schockstarre. Entrüstet blickte er Anastasia an und man konnte sehen, wie seine Kinnlade immer mehr runterklappte.
Etwas beschämt von der Situation begann Lynn zu dem Jungen zu reden.
„Also, ähm, das ist -" nach einer winzigen Pause fiel ihr der Name zu ihrem Glück wieder ein „Das ist Anastasia. Ich heiße Lynn."
„Ich bin Desmond." sagte er, nachdem sich sein Unterkiefer wieder in eine gewöhnliche Position begeben hatte.
„Willst du dich vielleicht hinsetzen?" fragte sie, einerseits um höflich zu sein, andererseits um zu erfahren, was genau dieses Slytherin nun ist.
Desmond schaute von Lynn zu Anastasia (nicht ohne bei ihr die Augen sichtlich zusammen zu kneifen) und wieder zurück. Er resultierte mit einem „Klar, danke." und verstaute seinen Koffer, um sich hinzusetzen.
Nach einem kurzen Schweigen kam Lynn wieder zu Wort:
„Was genau ist denn jetzt Slytherin?"
„Wie gesagt-" begann Anastasia, wurde jedoch von Desmond unterbrochen.
„Nein! Das stimmt nicht. Slytherin ist das Haus der Ehrgeizigen. Wer in Slytherin ist... aus dem wird mal was. Meine Eltern-"
„-lass mich raten. Sie waren auch in Slytherin?" entgegnete Anastasia mit einem leicht genervten Unterton.
Lynn verstand überhaupt nichts. „Was ist Slytherin?!"
„Also," begann Anastasia langsam ...

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