Prolog

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»Als ich sie zum ersten Mal sah, kam sie mir wie ein Engel vor«, begann ich und schluckte schwer. »Ich hätte damals ja nicht ahnen können, dass alles so enden würde ...« Mitten im Satz brach ich ab und biss mir auf die Lippe. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Meine Finger schlossen sich krampfhaft um die Kette, die um meinen Hals hing. Ein filigranes Silberkreuz baumelte in ihrer Mitte, um das ich meine Hand nun legte.

Der Psychologe vor mir ließ den Kugelschreiber sinken, mit dem er sich vorher eifrig Notizen gemacht hatte und rückte seine Brille zurecht. »Wollen Sie ...«, fing er an, aber ich unterbrach ihn, indem ich mich räusperte.

»Nein«, meinte ich heiser und schüttelte den Kopf. »Ich möchte weiterreden.«

Er schwieg und lächelte mir aufmunternd zu, weshalb ich noch einmal schluckte und tief einatmete, um mich ein wenig zu beruhigen. Aber wie war das möglich? Wie konnte ich mich beruhigen, wenn dies alles hier geschehen war?

»Sie hätte Hilfe gebraucht«, erzählte ich nun und räusperte mich zum zweiten Mal, weil meine Stimme rau und kratzig klang. »Ich hatte gedacht, dass ich diese Hilfe für sie sein konnte.« Im Nachhinein kam mir dieser Gedanke lächerlich und fast schon absurd vor. Ihre Hilfe! Wie hätte jemand wie ich einem Mädchen wie ihr helfen können? Mir einmal durch die Haare streichend machte ich mir selbst Vorwürfe. Gott, war ich dumm gewesen! Dumm, unverantwortlich, ignorant gegenüber jeder Vernunft ...

»Ich lag falsch«, presste ich nun zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und ballte meine Hand, die das Kreuz immer noch umfasste, so fest zusammen, dass meine Knöchel sich weiß färbten und die Kanten des Anhängers sich in meine Handfläche bohrten. Mir machte der Schmerz nichts aus. Ich hatte in den letzten Tagen schon viel Schlimmeres erlebt.

»Ich dachte, ich würde ihr die Hand reichen, um ihr aus diesem Teufelskreis zu helfen. Stattdessen wurde ich von ihr mit hineingezogen.«

Meine Augen fixierten den Boden vor mir, trotzdem sah ich, dass mein Gegenüber sich erneut etwas notierte. Ich versuchte es ihm nicht übelzunehmen. Es war schließlich sein Job! Und dennoch machte es mich auf eine gewisse Weise nervös. Dieser Mann sammelte Informationen über mich. Wenn sie in falsche Hände gerieten, wollte ich mir die Konsequenzen gar nicht erst ausmalen! Vorausgesetzt, sie waren nicht schon längst dort. Wer konnte wissen, wer dieser Mann vor mir wirklich war? Ein Mensch? Ein Vater? Ein Psychologe? Vielleicht auch nichts davon.

»Sie zeigte mir, die Welt mit anderen Augen zu sehen«, gab ich schließlich von mir. Ich musste etwas sagen. Wütend und enttäuscht starrte ich erneut zu Boden. Ich hatte mir vorgenommen, diesem Mann die Wahrheit zu erzählen! Ich hatte es beschlossen, nachdem ich über Wochen hinweg ein völlig veränderter Mensch gewesen war. Ich hatte mit meinen Eltern geredet, hatte gearbeitet und alles getan, worum man mich gebeten hatte. Wenn jemand mich etwas gefragt hatte, hatte ich ihm eine Antwort gegeben. Und trotzdem war ich nicht derselbe Mensch wie vorher gewesen. Alles, was mein Leben irgendwie erfüllt und ihm einen Sinn gegeben hatte, war mit einem Mal verschwunden. Was übrig blieb, war eine Leere in mir, die alles andere zu verschlucken schien. Nein, nicht alles, denn der Schmerz war geblieben und das Misstrauen auch. Das Misstrauen gegenüber allen Menschen, die mir begegneten.

»Ich glaube nicht, dass ich das, was ich gesehen und gehört habe, wieder vergessen werde. Wahrscheinlich werde ich niemals mehr jemandem in die Augen sehen können, ohne an das Geschehene denken zu müssen. Und ich werde niemals mehr jemandem vertrauen können. Wie sollte ich auch?«

Der Psychologe überschlug die Beine und musterte mich von oben bis unten. Ich hielt den Kopf gesenkt, wollte ihm nicht in die Augen sehen müssen.

»Und trotzdem erzählen Sie mir dies alles«, meinte er leise, was mich nun doch zum Aufblicken brachte.

»Ja«, flüsterte ich, denn ich traute meiner Stimme nicht. »Trotzdem erzähle ich Ihnen dies alles. Was bleibt mir auch für eine Alternative? Ich habe eine Entscheidung getroffen.«

Eine Entscheidung, die ich schon jetzt bereute. Wie konnte ich dieser Person vertrauen? Wer sagte mir nicht, dass es nicht stimmte, was das Mädchen mir erzählt hatte?

»Amara Fall«, sagte ich leise und schloss für einige Zeit die Augen. Erst als ich etwas Feuchtes auf meiner Hand spürte, merkte ich, dass ich weinte. Ich weinte um das Mädchen mit den blauen Augen, das mir alles genommen und gleichzeitig so viel gegeben hatte. Und als ich ihren Namen aussprach, fühlte es sich an, als würde mein Herz mit tausenden, winzigen Stichen durchbohrt werden.

»Sie war wunderschön«, wisperte ich und sah ihr Gesicht vor meinem inneren Auge. Ihre strahlenden Augen, die langen Wimpern, die diese umrahmten und die weichen Gesichtszüge. »Aber ich hätte ja nicht ahnen können ...«, begann ich dann noch einmal und brach in einem Schluchzen ab. Nun waren wir wieder am Anfang angelangt und ich presste mir eine Hand vor den Mund, um das Weinen zu ersticken. Vergeblich.

»Es ist meine Schuld«, keuchte ich dann. »Wenn ich doch nur etwas getan hätte ...«

»Es ist in Ordnung«, erklärte der Mann mit dem grau-schwarzen, kurzen Haar und dem Dreitagebart. »Vergeben Sie sich selbst! Sie konnten nichts mehr an der Situation verändern. Selbst für einen ausgebildeten Spezialisten wäre es ein schwieriger Fall gewesen.«

»Wie also«, hauchte ich kraftlos, »habe ich auch nur denken können, alleine damit klarzukommen?« Ich schüttelte nur den Kopf über meine fehlende Intelligenz. Doch jetzt war es zu spät. Es hätte mir früher auffallen müssen.

»Ich war vom ersten Augenblick an verzaubert von ihr«, meinte ich schließlich, die Augen immer noch geschlossen und tief durchatmend, denn nun ließ ich das Geschehen Revue passieren.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt