23. Weggelaufen

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"Sie hatte mir so viel genommen und gleichzeitig so viel gegeben ..."

*****

Sobald wir aus dem Haus getreten waren und ich die Tür hinter mir zu gezogen hatte, ließ ich sie los.

"Oh Gott, er hat meine Stirn berührt", flüsterte mein Mädchen, ihre Stimme brach ab und mit zitternder Hand tastete sie ihren Kopf nach der Stelle ab.

"Amara!", rief ich, hielt sie an den Schultern fest und zwang sie dazu, mir in die Augen zu sehen.

"Das war Louis. Mein bester Freund! Mein langjähriger Kollege! Es war nicht er!"

"Harry, glaube mir nur dieses eine Mal, wenn ich sage, dass er es war!", flehte sie, Tränen schimmerten in ihren Augen. Es tat unendlich weh, sie so unglücklich zu sehen, aber ich musste mich zusammenreißen. Ich hatte ihr etwas klar zu machen.

"Nein, Amara!", redete ich auf sie ein. "Es war einfach nur Louis. Mein Freund ist nicht vom Teufel besessen oder ähnliches! Er hat lediglich ein Paket entgegengenommen und ist dann zurück zu uns gekommen!"

"Dann muss es in dem Paket gewesen sein!", vermutete sie. "Und er hat es berührt, daher ..."

"Es war eine scheiß Mikrowelle", unterbrach ich sie. "Nichts weiter."

Sie schloss für einen Moment die Augen, um meinem Blick nun doch entgehen zu können und schüttelte stur den Kopf.

"Nein. Ich bin mir ganz sicher! Wieso glaubst du mir nicht?"

Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter. Zaghaft streckte ich eine Hand aus und wischte sie vorsichtig weg.

"Alles gut", versuchte ich sie zu beruhigen. "Shhh, alles in Ordnung."

Sie blinzelte einige Male, dann schluckte sie und sah mich erneut an.

Und plötzlich, schneller als ich reagieren konnte, beugte sie sich nach vorne, streifte mit ihren Lippen eine winzige Sekunde lang die meinen und wirbelte dann herum.

"Du kannst nichts dafür", rief sie, während sie schon durch die Straße rannte, "und er ebenso wenig. Das weiß ich!"

"Amara!", schrie ich und streckte eine Hand aus, obwohl diese Reaktion viel zu spät kam. Sie war bereits mehrere Meter von mir entfernt.

"Ich liebe dich!", konnte ich sie rufen hören, dann war sie um die nächste Straßenbiegung verschwunden und ich stand allein.

Es brauchte mehrere Sekunden, bis mein Gehirn die Situation erfasste, meinen Beinen den Befehl zum Laufen gab und ich ihr hinterher taumeln konnte. Vergebens, wie mir nur allzu gut bewusst war, denn ich kannte dieses Mädchen. Wenn sie nicht gefunden werden wollte, dann war es fast unmöglich, daran etwas zu ändern.

Und doch bog ich um die nächste Ecke, rief immer wieder verzweifelt ihren Namen aus, hoffte, dass sie mich hören würde, dass irgendjemand mich hören und mir helfen würde. Natürlich kam niemand. Ich fühlte mich einsam, verlassen, mir wurde bewusst, wie kalt es hier draußen wirklich war. Bei dem überstürzen Verlassen der Wohnung hatte ich meine Jacke natürlich nicht mitgenommen.

Die Straße vor mir war leer. Nichts befand sich hier, niemand, kein Mädchen mit himmelblauen Augen und hellblonden Haaren. Keine Amara.

Ich nahm mein Handy hervor, wählte ihren Kontakt aus und rief an. Sie ignorierte dies, wenn sie das Klingeln überhaupt hörte. Wo war sie hin gelaufen? Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung.

Ebenso hatte ich keinen Anhaltspunkt, wohin sie gehen würde. Natürlich kannte ich die Adresse ihrer Wohnung, doch in dieser war sie lange schon nicht mehr gewesen, vermutlich seit dem Vorfall mit der Frau nicht mehr. Auch wo Zayn wohnte, wusste ich natürlich, jedoch brachte mir dies auch nichts. Sie würde nicht zu ihm gehen, das wusste ich. Sie würde sich verstecken, in einem Unterschlupf, der mir unbekannt und unmöglich zu finden war.

Mein Handy klingelte. Hoffnungsvoll holte ich es hervor, ließ es dabei beinahe fallen und wurde schließlich enttäuscht. Es handelte sich lediglich um Louis. Wahrscheinlich wollte er wissen, was passiert war. Armer Louis, schon wieder war ich eine Enttäuschung für ihn gewesen.

Allerdings war ich nicht bereit, mit ihm zu reden. Ich wollte nichts erklären müssen, was ich doch nicht erklären konnte. Und was er mir nicht glauben würde.

Nun Amaras Rolle übernehmend, ignorierte ich den eingehenden Anruf. Ich hatte meinen besten Freund in der letzten Zeit viel zu oft ignoriert. Aber es war mir schlichtweg egal. Sollte er doch böse auf mich sein, ich hatte so oder so nichts anderes verdient.

Entkräftet ließ ich Kopf und Schultern sinken, bis ich mich schließlich umdrehte. Es gab keinen Grund mehr für mich, hier zu sein.

Langsam trottete ich zurück. Es würde ein wenig dauern, bis ich bei mir zu Hause angelangt war, wir hatten eigentlich geplant gehabt, dass Lou uns später zurück fahren sollte. Jedoch konnte ich mir das nun abschminken.

Sie hatte mir meinen Freund genommen. Das wenige bisschen Vertrauen gegenüber Fremden, das ich besessen hatte. Meine Zuverlässigkeit bei der Arbeit. Und trotzdem war dies alles nichts gegenüber dem Gefühl, was mich erfasste, weil sie nicht da war. Sie hatte mir alles genommen, doch gleichzeitig auch so viel gegeben. Ein solches Gefühl hatte ich vorher noch nicht gehabt. Es war mir fremd. Und es schien unmöglich zu beschreiben.

Ich war erneut bei dem Haus angelangt, in dem sich Louis' Wohnung befand. Zu meinem Erstaunen stand die Tür offen.

Verwundert blickte ich auf und erkannte meinen braunhaarigen Kumpel, der in dieser lehnte und eine Zigarette rauchte.

"Harry?", rief er aus, seine Stimme klang vorwurfsvoll. Ich konnte es ihm nicht verübeln.

"Was ist passiert? Wo ist Amara? Wir haben uns Sorgen ..."

Mitten im Satz brach er ab, als er mein Gesicht sah.

"Weinst du?", fragte er dann und ich hob meine Hand, um diese zur Wange zu führen. Tatsächlich, sie war nass. Ich weinte wahrhaftig. Es war mir nicht aufgefallen.

"Wohin gehst du denn?", wollte er wissen.

"Nach Hause", nuschelte ich mit rauer Stimme und sah weg.

"Junge, du erfrierst dabei!", fing mein Freund an, überlegte dann kurz und fasste einen Entschluss.

"Warte hier", befahl er mir, verschwand im Haus und kehrte kurz darauf mit meiner Jacke und Autoschlüsseln zurück.

"Na los, steig ein", forderte er mich auf und nickte zu seinem Wagen.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete ich die Tür und ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder.

Louis fragte nicht danach, was geschehen war. Er setzte sich einfach ans Steuer und fuhr mich nach Hause. Und dafür war ich meinem besten Freund mehr als dankbar.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt