4. Der weinende Engel

65 8 0
                                    

"Ich war sofort hellwach, als ich das Schluchzen hörte. Ich befürchtete, dass ihr etwas passiert sein könnte ..."

*****

Eilig kramte ich in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel, wurde fündig und schloss mit diesem die Tür zum Treppenhaus auf. Seit meine Großeltern gestorben waren, hatte ich in unserem Haus meine eigene kleine Wohnung, denn ihnen hatte diese vorher gehört. Nun lebte ich im ersten Stock, während meine Eltern im oberen Geschoss wohnten. Gemma war schon vor längerer Zeit ausgezogen.

Also öffnete ich nun meine Wohnungstür und ließ Amara vor mir eintreten.

"Komm mit", befahl ich ihr und führte sie in die Küche. "Möchtest du einen Tee haben?"

Sie nickte schüchtern und blieb in einer Ecke stehen, unsicher, was sie machen sollte.

"Keine Angst, hier wird dir nichts passieren", meinte ich also mit so viel Zuversicht, wie ich aufbringen konnte und setzte das Wasser an. Derweil öffnete ich einen der vielen Schränke, die sich über der Anrichte befanden und nahm zwei Tassen heraus, stellte diese auf den kleinen Holztisch, der direkt vor dem Fenster stand und machte mich dann auf die Suche nach Teebeuteln.

"Grünen- oder Früchtetee?", fragte ich sie dann. Amara wählte einen Kirschtee, von dem ich mir ebenfalls einen Beutel nahm und ihn in die Tasse tat. Nachdem ich auch das Wasser hineingegossen hatte, setzen wir uns und ich sah sie wieder an.

"Wie sieht er aus?", stellte ich eine der Fragen, die mir schon seit einiger Zeit im Kopf herumschwirrten. Sie wusste, dass ich den Stalker meinte.

"Ich weiß es nicht", erwiderte sie zu meinem Erstaunen, "aber ich merke es, wenn er da ist."

Obwohl ich nicht ganz verstehen konnte, wie das möglich war, nickte ich und schloss meine Hände um den wärmenden Tee. Es tat gut, draußen war es wirklich kalt gewesen.

"Und ... hast du eine Idee, wieso er dich verfolgt? Kennst du ihn vielleicht persönlich oder hast du irgendjemanden verärgert?", war das nächste, was ich wissen wollte, obwohl mir bewusst war, dass es mich eigentlich nichts anging.

"Ich habe meine Vermutungen", gab sie mit einem Schaudern zurück, doch da sie nichts weiter sagte, überlegte ich, dass sie diese Vermutungen nicht mit mir teilen wollte. Es wäre auch zu viel verlangt gewesen, wir kannten uns nicht gerade gut und es war so oder so schon erstaunlich, dass sie mir soweit vertraute, um in meiner Wohnung zu bleiben. Vielleicht hatte sie allerdings auch einfach keine andere Möglichkeit, aber ich wusste trotzdem nicht, wie ich an ihrer Stelle entschieden hätte. Wir waren ja quasi Fremde, wer sagte ihr nicht, dass ich nur ein Komplize ihres Stalkers war?

"Wieso vertraust du mir?", fragte ich also nun. Es war eine dreiste Frage, das wusste ich, doch ich war neugierig auf die Antwort. Als diese bekam ich ein erneutes Achselzucken.

"Es bleibt mir kaum eine andere Wahl. Und ich habe bei dir ein gutes Gefühl. Ich glaube nicht, dass du mir Böses willst, dazu hättest du schon lange eine Möglichkeit gehabt. Allein die Tatsache, dass er jetzt erst gekommen ist, sagt ja, dass du ihm keine Informationen geben konntest. Ich war schließlich schon länger in eurem Restaurant."

Wenn man es sich so überlegte, machte es Sinn.

"Du kannst hierbleiben, wenn du willst, ich kann dir die Couch ausziehen", bot ich also an. "Vielleicht ist er morgen ja nicht mehr da?"

Sie sah mich einen Moment lang an, bis sie schließlich nickte.

"Danke", murmelte sie dann noch einmal und trank einen Schluck ihres Tees.

Eilig leerte ich meine Tasse in wenigen, großen Schlucken, wobei ich mir den gesamten Mund verbrannte, aber die Wärme im Inneren tat gut.

"Bleib ruhig hier", meinte ich zu ihr, sprang vom Stuhl auf und verließ die Küche, um ins Wohnzimmer zu gelangen, wo ich mein dunkelrotes Sofa mit wenigen Handgriffen ausklappte und die überflüssigen Kissen achtlos in mein Schlafzimmer warf, damit sie sie möglichst nicht sah. Es war mittlerweile ziemlich spät, weshalb ich vermutete, dass sie bald schlafen wollen würde.

Als ich aufblickte, erkannte ich, dass Amara sich an den Türrahmen gelehnt hatte und mir wortlos dabei zusah, wie ich zu meinem Kleiderschrank ging und einige Klamotten herauszog.

"Willst du die zum Schlafen haben?", fragte ich sie und hielt ihr einen meiner Hoodies und eine Jogginghose hin. "Ich kann dir auch das Bad zeigen."

Sie bedankte sich, nahm die Sachen entgegen und presste sie an ihre Brust, folgte mir, als ich mich zum Bad begab, ihr ein Handtuch herausnahm und es ihr ebenfalls reichte. Dann lächelte ich ihr noch einmal zu und ließ sie schließlich in Ruhe, um noch einmal zur Haustür zu gehen und diese sorgfältig abzuschließen. Ich wollte nichts riskieren!

Schlussendlich zog ich mich ebenfalls um und ließ mich in mein Bett fallen. Da das Schlafzimmer dem Wohnzimmer direkt gegenüber lag, konnte ich erkennen, dass kein Licht mehr bei ihr brannte. Schlief sie mittlerweile?

Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf meinen Atem und konnte dennoch nicht einschlafen. Was war, wenn ihr Verfolger in dieser Nacht in das Haus einbrechen würde? Aber es war lächerlich, sich darüber Sorgen zu machen, wenn ich doch nichts an den Tatsachen ändern konnte. Hier waren wir beide sicherer als an den meisten anderen Plätzen. Doch wieso zum Teufel wollte sie die Polizei nicht rufen? Ich hatte mehrere Theorien dazu:

1. Sie kannte die Person, die sie verfolgte und wollte nicht, dass sie Probleme bekam.

Das würde jedoch nicht erklären, wieso sie solche panische Angst vor ihr hatte. Wen sollte man schützen wollen, wenn er einem solche Angst einjagte?

2. Sie war möglicherweise ein Verbrecher und wollte deshalb nicht zur Polizei.

In diesem Falle wäre es sehr unklug gewesen, sie mit nach Hause zu nehmen, daher hoffte ich, dass sich diese Theorie als falsch herausstellen würde.

3. Sie war eine der dummen Personen, die sich vor der Polizei fürchteten, obwohl diese sie lediglich schützen wollte.

So war Amara mir bisher allerdings nicht vorgekommen.

4. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Annahme, dass die Polizei ihr bei ihrem Problem nicht helfen konnte.

Ich wusste nicht, welche der Theorien mir am liebsten gewesen wäre. Doch als ich so dalag und über das Geschehene nachdachte, hörte ich ein leises Geräusch. Ein Schluchzen, fast nicht hörbar, aber ich wusste, dass es von ihr stammte.

In der plötzlichen Angst, ihr könnte etwas passiert sein, sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf und tappte ins Wohnzimmer hinein.

Sie lag auf dem Sofa, mir den Rücken zugedreht und ihre Decke umklammert. Sie schien wohlauf zu sein, jedenfalls nicht körperlich verletzt, aber das leise Schluchzen, was ich hörte, war einer der herzzerreißendsten Geräusche, die ich jemals erlebt hatte.

Langsam schlich ich zu ihr, hockte mich neben das Sofa auf den Boden und strich ihr einmal beruhigend über den Rücken. Sie erstarrte, versteifte sich und öffnete die Augen, aber als sie mich erkannte, schloss sie sie wieder.

"Alles ist gut", versuchte ich sie zu beruhigen, "dir wird nichts passieren. Ich bleibe bei dir."

Also lehnte ich mich an die Wand, zog die Beine an den Körper heran und sprach ihr beruhigend zu, bis ihr Atem sich irgendwann beruhigte, das Weinen aufhörte und sie einschlief. Erst dann schlich ich zurück zu meinem eigenen Bett.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt