2. Verfolgt

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"Ich wusste, dass an diesem Abend etwas anders war. Ich sah es an dem leeren Glas, das vor ihr stand und an der Tatsache, dass sie trotzdem noch da war. Etwas war passiert. Und ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben ..."

*****

Seit über zwei Wochen war sie jeden Tag gekommen. Jeden einzelnen. Wenn sie ausgetrunken hatte, verließ sie das Restaurant normalerweise so still und schweigsam, wie sie gekommen war, doch die Tatsache, dass sie an diesem Tag noch immer auf ihrem Stuhl saß, machte mich stutzig.

"Wir wollen schließen", grummelte mein Kollege Louis, während wir gemeinsam in der Tür standen, die die Küche vom Rest des Restaurants trennte. "Ich will mit Eleanor ausgehen, ich kann mir keine Verspätung leisten!"

Verständnisvoll sah ich ihn an. Er wollte seine Freundin beeindrucken, also huschte mein Blick auf die Uhr.

"Geh' ruhig schon, ich mache hier den Rest", bot ich ihm an und listete im Kopf die wenigen Dinge auf, die ich noch zu tun hatte. Es war wirklich nicht mehr viel, wir hatten nur noch einige Tische abzuwischen, was ich auch genauso gut allein machen konnte.

Einen Moment lang sah er mich fassungslos an, bis er breit grinste.

"Danke, Kumpel. Du hast was gut bei mir!"

Eilig winkte ich ab und klopfte ihm auf die Schulter.

"Kein Ding. Aber jetzt sieh zu, dass du nicht zu spät kommst. Es soll sich doch wenigstens lohnen!"

Ihm noch einmal zuzwinkernd setzte ich mich in Bewegung, um zu dem blonden Mädchen zu gelangen, während er das Restaurant schon verließ.

Als ich sie sah, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Für gewöhnlich starrte sie aus dem Fenster, doch nun war ihr Blick in weite Ferne gerichtet. Mit aufgerissenen Augen und kreidebleichem Gesicht saß sie da, die Finger um einen der Bierdeckel verkrampft, die frei auf den Tischen standen.

"Entschuldigen Sie", begann ich schließlich, wurde aber nervös, als sie nicht reagierte. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, ich sah es ihr sofort an. Das beunruhigte mich. Was war passiert, was ihr einen solchen Schrecken eingejagt haben mochte?

"Wir wollten schließen", fuhr ich irgendwann fort, weil keine Reaktion von ihr zu erkennen war. "Ist alles in Ordnung, Miss?"

Jetzt drehte sie ihren Kopf langsam zu mir, die Augen immer noch riesig. Sie schüttelte den Kopf.

"Nein!", keuchte sie, ihre Stimme zitterte. "Ich kann nicht raus gehen!"

Fragend legte ich den Kopf schief, zog einen Stuhl herbei und setzte mich zu ihr. In meinem ganzen Leben war mir noch keine Person begegnet, die so verängstigt ausgesehen hatte.

"Was ist los?", fragte ich eindringlich und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Ihre Hände ließen den Bierdeckel los, krallten sich in die Tischdecke und begannen unkontrolliert zu zittern.

"Ich", begann sie und stoppte für einen kurzen Moment, "ich werde verfolgt."

Erschrocken schaute ich in ihre Augen, suchte nach dem Fünkchen Schalk, das verraten könnte, dass es sich hierbei lediglich um einen schlechten Scherz handelte, doch als ich dies tat, wusste ich, dass sie es absolut ernst meinte. Man sah es ihr an. Eine solche Panik konnte man nicht spielen!

"Sind Sie sich sicher?", murmelte ich vorsichtig und warf einen Blick aus dem Fenster. Mehrere Personen waren zu sehen. Ein Mann stand an der gegenüberliegenden Straßenseite gegen eine Laterne gelehnt und rauchte, ein anderer ging mit seinem Hund, einem beängstigend aussehenden Rottweiler, spazieren und eine Frau packte irgendetwas in ihr Auto hinein.

Als ich wieder zu ihr blickte, sah ich, dass sie nickte.

"Soll ich die Polizei rufen?", erklärte ich nun, das erste, was mir in einer solchen Situation eingefallen wäre.

"Nein", sagte sie zu meinem Erstaunen hastig, "keine Polizei, bitte!"

"Warum ...", begann ich, doch sie schüttelte mit dem Kopf.

"Das würden Sie nicht verstehen."

Ein wenig verletzt kaute ich auf der Innenseite meiner Wange herum, aber sie hatte vermutlich Recht. Sie würde ihre Gründe dafür haben, dass sie die Polizei nicht einschalten wollte, die ich nicht kannte.

"Ich muss nach Hause", meinte sie nun.

Verwirrt sah ich sie an.

"Ich kann Sie doch nicht alleine nach draußen lassen, wenn Sie mir gerade erklärt haben, dass irgendjemand Sie verfolgt!", protestierte ich und sie biss sich auf die Lippe.

"Aber ich muss hier weg!", rief sie panisch aus. "Er war dort draußen, er wird wiederkommen, er wird mich finden!"

Verzweifelt suchte ich nach einer Lösung und fuhr mir durch die braunen Locken. Mein Blick schoss erneut zum Fenster, aber wie befürchtet war das Auto unserer Familie nicht an seinem Platz. Meine Eltern waren vielleicht weggefahren, wohin, wusste ich allerdings nicht.

"Ist er denn noch immer da?", fragte ich sie dann und kratzte mich am Nacken. In einer solchen Situation war ich noch nie gewesen, ich wusste nicht, wie ich mich zu verhalten hatte. Doch noch während ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie dumm diese Frage gewesen war. Natürlich war ein Stalker nicht einfach verschwunden! Selbst wenn sie ihn gerade jetzt nicht sehen konnte, war es gut möglich, dass er irgendwo dort lauerte und auf sie wartete.

"Sind Sie sicher, dass Sie nach Hause gehen wollen?", beeilte ich mich also zu sagen, bevor sie auf die dumme Frage davor antworten konnte. Sie nickte.

"Der Bus kommt in einer Viertelstunde", erklärte sie mit einem Blick auf die Uhr.

"Können Sie jemanden anrufen, der Sie abholen könnte?"

Die Blonde schüttelte mit dem Kopf.

Unentschlossen sah ich von ihr nach draußen und dann auf die Arbeit, die ich noch zu machen hatte. Aber für mich stand eigentlich schon fest, dass ich sie nicht alleine gehen lassen konnte. Wer weiß, was dieser Kerl machen würde, wenn sie fünfzehn Minuten lang alleine an einer verlassenen Bushaltestelle wartete!

"Ich komme mit Ihnen", beschloss ich also. "Ich denke doch nicht, dass Ihr Verfolger sich traut, Ihnen etwas anzutun, wenn Sie in Begleitung sind?"

Sie sah mich ungläubig an.

"Hoffentlich", murmelte sie dann leise, was ich jedoch zu verdrängen versuchte. In Begleitung eines jungen Mannes würde ihr nichts passieren!

Somit sprang ich auf, stellte den Stuhl an den Tisch zurück, von dem ich ihn mir genommen hatte und schnappte mir meine Jacke, um sie mir überzuziehen. Normalerweise ging ich nicht gerne in der Kleidung nach draußen, in der ich arbeitete, doch heute war ein Ausnahmefall. Es war nicht die Zeit, um sich noch umzuziehen. Ich hätte es niemals mit meinem Gewissen vereinbaren können, sie so ganz alleine nach draußen zu lassen. So konnte ich wenigstens sicher sein, dass sie heil in den Bus einstieg.

Engelsgleich || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt