5. Kapitel

21 3 0
                                    

Am nächsten Morgen

Ich kann mich kaum noch an die Nacht erinnern. Die ganze Zeit über hatte ich keinen erholsamen Schlaf. Und jetzt sitze ich hier, völlig verschlafen, als könnte ich in der Dunkelheit des Raumes verschwinden. Ich merke nicht einmal, was Melia neben mir tut. Ein Zombie wäre lebendiger als ich, nur dass ich, hoffentlich, noch atme.

„Lils? Kannst du mich hören?"

Ich blinzele, als Melia ihre Hand vor meinen Augen hin und her schüttelt. Erst jetzt realisiere ich, dass sie die ganze Zeit mit mir gesprochen hat.

„Sorry, Mel... hattest du was gesagt?"

„Ja, ich spekuliere gerade darüber, was gestern Abend passiert ist."

„Weißt du es nicht?"

„Nein, ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich glaube, ich habe einen Filmriss."

„Einen Filmriss!?"

Unfassbar! Wie kann man so etwas einfach vergessen? Ich habe mir das doch nicht eingebildet! Oder etwa doch?

„Aber du erinnerst dich doch, dass wir das Ritual durchgeführt haben, oder?"

„Welches Ritual, Lily?"

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das ist schlimmer, als ich dachte. Sie hat alles vergessen!

„Melia, du darfst nicht alles vergessen!"

Melia sieht mich hilflos an, als wäre ich die Verrückte. Plötzlich habe ich eine Idee, wie ich ihr beweisen kann, was gestern passiert ist. Ich könnte ihr das Video zeigen. Das Video, in dem wir das Ritual durchgeführt haben. Vielleicht hilft es ihr, sich zu erinnern.

Schnell springe ich aus dem Bett und gehe ins Badezimmer. Ich folge meiner Morgenroutine, aber mein Kopf ist wie benebelt, als würde er sich weigern, das, was passiert ist, zu akzeptieren. Dann renne ich in mein Zimmer, um meinen Laptop zu holen.

Doch als ich den Raum betrete, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Es ist schwer zu fassen, aber es fühlt sich an, als wäre etwas... oder jemand... hier. Kennt ihr dieses Gefühl, wenn es einfach nicht stimmt, auch wenn ihr nichts Genaues greifen könnt? Ich kann nicht mal sagen, was es ist – aber es ist da.

„Egal, jetzt ist nicht der Moment dafür", sage ich mir und renne wieder zu Melia. Mein Laptop in der Hand, öffne ich ihn und gehe auf unseren YouTube-Kanal. Nur – wo ist das verdammte Video?

Ich kann es nicht finden. Es müsste da sein, das Video vom Ritual. Wir hatten es doch live gestreamt! Es war so eingestellt, dass es direkt im Anschluss als normales Video verfügbar sein sollte. Doch es ist... nicht da.

Ich fühle mich wie in einem Albtraum, der immer düsterer wird.

„Jakob... die Stimme... der Wald... das Ritual..."

Verzweifelt stürme ich zurück in mein Zimmer, nehme die Live-Stream-Kamera und drücke sie fest an mich. Doch gerade als ich das Zimmer verlasse, höre ich Melia ängstlich schreien.

„AH! LILY!"

Ein eisiger Schauer läuft mir den Rücken hinunter, als ich mich umdrehe und eine Hand auf meinem Bücherregal sehe. Es ist eine Kinderhand, blutverschmiert. Mein Herz rutscht in meine Magengrube.

Ich gehe näher und erblicke die Nachricht. Sie ist in Blut geschrieben:

Du bist die Nächste! Es war ein Fehler, das Ritual zu unterbrechen! Also mach dich bereit für deinen Untergang, Lily!

P.S. Jakob ist nun ganz nahe an dir.

– Mama

„Mist! Was hat das alles zu bedeuten?"

„VERDAMMT LILY! KOMM RUNTER!"

„Ja, bin gleich da."

Ich drehe mich um, doch als ich noch einmal auf das Regal schaue, ist die Hand verschwunden. Das Blut. Alles. Weg.

Ich kann das Gefühl nicht abschütteln. Bin ich paranoid? Verliere ich den Verstand? Es fühlt sich alles so real an. Zu real.

Langsam gehe ich zu Melia, die mich mit einem entsetzten Blick ansieht. Doch als ich sie anschaue, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Lippen verziehen sich zu einem breiten, unheimlichen Grinsen. Ihre Augen weiten sich, und die Pupillen verschwinden fast ganz, da ihre Augen in einem tiefen, dunklen Schwarz versinken.

Und dann, ohne Vorwarnung, beginnt sie hysterisch zu lachen. Ein Lachen, das nicht von ihr zu kommen scheint. Ein grausames, böse klingendes Lachen.

„Dachtest du, du kannst abhauen?"

„Melia, geht es dir gut?"

„DUMMES MÄDCHEN! Mich hat Mama geschickt. Ich habe gehört, ihr habt euch fünf Minuten verspätet. Nun, dann müsst ihr mit den Konsequenzen klarkommen."

„W... wer b...b...bist du?"

„DUMMES MÄDCHEN! Menschen wie du sind naiv! Statt zu flüchten oder wenigstens zu rennen, stellst du mir noch diese Fragen. Nun, ich bin dein Untergang, meine Liebe. Nicht so schlimm wie die Bitch namens Mama, aber lebend kommst du trotzdem nicht raus."

Ein kalter Schauer überkommt mich. Die Melia, die ich kannte, ist nicht mehr da. Ein anderes, bösartiges Wesen hat ihren Körper übernommen. Sie nimmt ein Messer in die Hand, das schimmernde, kalte Metall in der Sonne. Mit einer dämonischen, unkontrollierten Wucht schlägt sie mit der Messerspitze zwischen ihren Fingern, als würde sie damit auf mich zielen. Es ist brutal, gefährlich. Und jedes Mal, wenn das Messer in der Luft zischt, spüre ich, wie sich mein Körper vor Angst versteift.

Ich will weglaufen, aber meine Beine sind wie gelähmt. Der Schrei des Monsters, das in Melias Körper steckt, hallt in meinen Ohren.

Und dann fliegt das Messer auf mich zu.

Das RitualWo Geschichten leben. Entdecke jetzt