Seven | Kihyun 🌙

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Irgendetwas lässt mich umdrehen. Da steht er. Den Rücken zu mir gewandt und den Blick starr auf die Gleise gerichtet. "Nein!", hauche ich und renne zu ihm. Fest schlinge ich die Arme um ihn. "Bleib bei mir", rufe ich hysterisch und ziehe ihn weg von den Gleisen. Er ist wie in Trance, weil er sich nicht bewegt, vielleicht atmet er nicht mal mehr? Dann dreht er sich langsam um. Sanft streiche ich ihm die Tränenspuren von seinen Wangen. "Lass uns nach Hause gehen." Ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen und ziehe ihn mit mir. Wir leben in einer Welt, die geschaffen wurde aus dem Geist der Grausamkeit. Eine traurige, gottlose Welt und doch haben wir uns. Wir, zwei Jungen, die schon in diesem zarten Alter viel durchgemacht haben und langsam kaputt gehen.

"Es tut mir leid, wie es gelaufen ist", murmele ich schüchtern und schließe mein Zimmer auf. "Schon gut", brummt er und setzt sich auf mein Bett. "Kann ich einkaufen gehen?", fragt der Braunhaarige plötzlich ziemlich kühl. Unfähig, es ihm zu verbieten nicke ich. "Geld liegt auf dem Schreibtisch... und zieh meine Jacke an, ich will deine gerne Waschen", sage ich schnell, bevor er aus der Tür verschwindet. Hyunwoo nickt und zieht meine Jacke an, greift sich ein paar Scheine und verschwindet. Unsicher nehme ich seine Jacke vom Hacken und gehe in die Waschküche des Wohnheims. Als ich seine Jackentasche leere kommt mir ein Notizbuch entgegen. Achtlos lege ich es zur Seite und schalte die Waschmaschine an. Dann nehme ich das Notizbuch in die Hand und mustere es neugierig. Der Einband ist in einem schlichten Schwarz gehalten und sieht ziemlich mitgenommen aus. Da ich meine Neugier nicht mit zähmen kann, schlage ich die erste Seite auf.

26 Juli 2000
Liebes Tagebuch,
Heute war ein schöner Tag! Ich war heute mit Eomma draußen und wir haben gespielt. Nach langer Zeit scheint es ihr wieder besser zu gehen.
Bis morgen!

Nachdenklich schließe ich das Buch und gehe zurück in mein Zimmer. Es ist nicht in Ordnung in seinem Privatleben herumzuschnüffeln, aber auf der anderen Seite juckt es mir in den Fingern, ihn näher kennenzulernen. Unsicher beiße ich mir auf die Lippe und schlage die nächste Seite auf.

27 Juli 2000
Liebes Tagebuch,
Ich habe Streit mit Hoseok, dass macht mich traurig. Ich habe ihn doch soooo lieb. Ich hoffe, wir vertragen uns wieder. Appa ist stolz auf mich, weil ich Klassenbester bin. Eomma geht es wieder besser.
Bis morgen!

Ich muss lächeln, bei der Vorstellung des kleinen Hyunwoo's. Er war bestimmt ein süßes und wie es in den Notizen herüberkommt, sehr lebensfrohes Kind. Wie kann er nur in so eine Lage gekommen sein, auf der Straße leben zu müssen? Es wird vermutlich in diesem Buch stehen. Ich überfliege die nächsten Einträge, in denen nur etwas über meinen Exfreund, seine schulischen Leistungen oder seine Eltern steht. Verwundet lese ich das Datum des nächsten Eintrags. Er muss wohl längere Zeit nichts mehr eingetragen haben.

18 Februar 2002
Liebes Tagebuch,
Ich habe dir lange Zeit nicht mehr geschrieben und dafür möchte ich mich entschuldigen. Gestern ist etwas furchtbares passiert. Eomma hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Sie ist jetzt an einem besseren Ort. Ich fühle mich leer, einsam und endlos traurig. Ich will zu ihr, irgendwie aber ich habe zu große Angst vor dem Tod. Ich bin ein Schwächling. Appa ist seit Tagen in seinem Arbeitszimmer und kommt nicht mehr heraus. Er ertränkt seine Trauer in Arbeit. Das ist wohl seine Art, mit Trauer umzugehen. Ich habe stattdessen einen Setzling gepflanzt. Ich hoffe, er wird eines Tages ein großer, starker, wunderschöner Kirschbaum. Ich werde mich gut um ihn kümmern, so wie sich Eomma immer um mich gekümmert hat!
Ich halte dich auf dem laufenden. Bis morgen!

Seine Mutter ist also an Krebs gestorben. Jetzt fühle ich mich schlecht, so etwas intimes zu lesen.

2 März 2002
Vater ist aufeinmal wie ausgewechselt. Er verhält sich komisch gücklich, während ich mit meiner Trauer nicht mehr klar komme.

14 März 2002
Appa ist tagsüber weg und kommt erst sehr spät in der Nacht wieder. Er scheint kein Interesse mehr an mir zu haben.

16 April 2002
Liebes Tagebuch,
Heute hat mir mein Vater seine neue Freundin vorgestellt. Wie kann er Eomma nur so verraten? Ich bin sauer auf ihn. Er meinte, Eomma hätte gewollt, dass er wieder glücklich wird, aber doch nicht so schnell?

"Was machst du da?", meldet sich plötzlich Hyunwoo zu Wort. Ich zucke heftig zusammen und schlage das Buch zu. "Ich... E-Es tut mir leid, ich wollte n-nicht-" "Ist das mein Tagebuch?", unterbricht er mich und nimmt mir das Buch aus der Hand. "J-Ja", murmele ich Kleinlaut. "Es ist unhöflich, in den Sachen anderer herumzuschnüffeln", knurrt er und drückt mich auf mein Bett. Er riecht nach Alkohol, also hat er getrunken. Jetzt nichts falsches machen, sonst rastet er komplett aus und bringt mich noch um. Alkoholiker sind unberechenbar. "Ich sollte dich bestrafen", raunt er mir in mein Ohr. Erschrocken reiße ich die Augen auf und stoße ihn von mir. "Ich habe mich entschuldigt!", verteidige ich mich. "Es tut mir leid, dass ich mich für dich interessiere, Hyunwoo." "Du erzählst mir auch nicht, was der Auslöser deiner Magersucht ist", faucht der Ältere und schlägt auf die Wand ein. "Du hast mich nie gefragt", flüstere ich leise und spiele mit dem Saum meines Pullovers.

"Das Leben ist so unfair", meint Hyunwoo mit gebrochener Stimme. "Warum wurde mir meine Mutter genommen? Ich habe sie mehr als alles andere geliebt. Sie war ein so wundervoller Mensch. D-Du erinnerst mich an sie. Sie war wie du ein sehr sanfter, fürsorglicher und zuvorkommender Mensch. Wir haben uns gemeinsam um verletzte Vögel und hungrige Straßenhunde gekümmert. Wir haben Obdachlosen etwas zum Essen und ein warmes Getränk gebracht und stets haben ihre Augen geleuchtet. Ich habe sie oft gefragt, warum sie das alles für andere tut, aber beantwortet hat sie es mir nie und weil sie so ein guter Mensch war, ist ihr früher Tod ungerecht. Das ganze Leid, den Schmerz und die Niederlage, dass hätte sie nicht verdient", erzählt er leise schluchzend. "Ich habe sie doch so geliebt und doch, konnte ich sie nicht beschützen, a-aber dich werde ich beschützen. Auch wenn der Feind deine Gedanken sind."

Ritzen ist kein Trend.
Magersucht ist keine Phase.
Depression ist keine Aufmerksamkeitssucherei.
Homosexualität ist keine Wahl.
Und Selbstmord ist nie grundlos.

Nostalgia | ShowkiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt