[SOLACE]
Flüchtig warf sie durch die offene Badezimmertür einen Blick hinaus in den Flur, um zu überprüfen, ob sich ihr Meister noch immer im Wohnzimmer aufhielt. Alles war noch genau an derselben Stelle wie vor zehn Minuten, als sie den Wasserhahn aufgedreht hatte. Die Gardinen, das Sofa, der große Spiegel, der Stapel Kisten auf dem Boden und die Schüssel mit den Äpfeln, die ihr ständig zuriefen: Iss uns, iss uns! Nur der Mann war verschwunden. Vorhin hatte sie ihn noch sehen können, doch jetzt musste er in einem anderen Zimmer sein. Das und die Tatsache, dass es im Bad kein Fenster gab, durch das man sie hätte beobachten können, beruhigten sie ein wenig.
Das Badezimmer war nicht sehr groß, ein paar der Fließen waren gesprungen und an der Zimmerdecke hingen Spinnweben, doch der Holzzuber war intakt und sauber, und mittlerweile voll. Abgesehen vom Hunger und der pochenden Wunde an ihrem Oberschenkel spürte sie keine körperlichen Schmerzen mehr.
Sie drehte den Hahn zu und tauchte ihren linken Fuß ins Wasser. In ihrer Heimat im Norden wäre das Wasser sicherlich noch zu heiß und sie hätte eine ihrer Zofen gebeten, noch etwas kaltes hinein zu gießen, bis es eine angenehme Temperatur besaß. Ebenfalls hätte man ihr das Bad mit süß duftenden Ölen oder Badesalzen angereichert, aber dergleichen bekam sie hier nicht. In Ephis gab es kein heißes Wasser aus den Leitungen, vermutlich wegen den ohnehin heißen Lufttemperaturen. Oder vielleicht gab es welches, nur ihr Meister hatte keinen Zugang dazu.
Sie wusste nicht, wie viel Geld er besaß, oder gar welchen gesellschaftlichen Status er hatte. Wenn sie drüber nachdachte, passte eigentlich gar kein Beruf zu ihm. Er hatte diesen abgewetzten schwarzen Ledermantel getragen, und diese schwarzen Stiefel, und sein Geschmack was Schmuck und Schminke betraf, schien ebenso divergent. Um seine Finger trug er keine Ringe aus Gold oder Silber, sondern kleine Lederriemen und seine Augen waren offensichtlich mit einem schwarzen Kohlestift geschminkt worden. Solace stufte ihn nach einer halben Stunde Bekanntschaft als sehr eitel und selbstverliebt ein. Charaktereigenschaften, die sie einem Mann aus Atraklin niemals zugeschrieben hätte, aber die Bewohner Tel'Naraes waren allgemein absurd anzusehen. Sie war sich sicher, der Reichtum und die politische Überlegenheit des Landes hatten die Menschen mitsamt ihrem Modegeschmack verdorben.
Der Wasserhahn tropfte ein wenig. Solace sank tiefer ins Wasser und tauchte ihren Kopf unter und hielt den Atem an. Wann war sie zuletzt in den heißen Bergquellen schwimmen gewesen? Es musste an Skadis zwölften Geburtstag gewesen sein, vor gut zwei Jahren. Sie hatte ihre Schwester mit ausgedachten Rätseln dorthin locken wollen, doch Skadi hatte viel zu lange gebraucht, sodass sie ihr am Ende bei den Lösungen helfen musste. Sie wollte an sie denken, an ihre kleine Schwester, die Schrammen sammelte wie andere Mädchen Puppen, doch ihr Gesicht verschwamm mit dem eines anderen.
Als Solace wieder auftauchte, strich sie sich schon fast wütend das Haar aus dem Gesicht. Sie fuhr sie mit der Hand über ihr Brustbein, betrachtete die Spinnweben an der Decke und musterte eingehend ihr Bild im großen Spiegel gegenüber. Erneut prüfte sie die offene Badezimmertüre. Ein Sklave darf keine Türen hinter sich schließen, hatte ihr Käufer zu ihr gesagt. Solace hatte das Recht auf Privatsphäre mit ihrem Halsreif verloren.
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Nur Narren lassen Sklaven frei
Fantasy𝐍𝐮𝐫 𝐍𝐚𝐫𝐫𝐞𝐧 𝐥𝐚𝐬𝐬𝐞𝐧 𝐒𝐤𝐥𝐚𝐯𝐞𝐧 𝐟𝐫𝐞𝐢. So lautet das bekannteste Sprichwort im Imperium Tel'Narae, in dem Sklaverei zum Alltag der Bürger und zum Schicksal der Unfreien gehört. Es ist eine barbarische Welt, regiert von Stahl und i...