Amor (Prolog am Himmel)

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„Weine nicht, wenn der Kurs fällt – dam dam, dam dam

Dein Louis Vuitton ist schon bestellt – dam dam, dam dam

Amor, Stein & Eisen bricht

Aber unsere Wirtschaft nicht

Alles, alles geht vorbei

Denn das ist kostenfrei

Nimm den goldenen Ring von mir – dam dam, dam dam

Das Finanzamt dankt es dir – dam dam, dam dam

Amor, Stein & Eisen bricht

Aber unsere Börse nicht

Alles, alles geht vorbei

Doch der Edelstein ist neu

Nun lieg' ich hier, komplett abgebrannt – dam dam, dam dam

Und du läufst weg zum reichen Ferdinand – dam dam, dam dam

Amor, Stein & Eisen bricht

Aber unsere Wirtschaft nicht

Jetzt ist es mit mir vorbei

Doch du lebst auf Hawaii"

Erbost und, zugegeben, leicht enttäuscht, schaltete Amor den iPod aus und nahm die Kopfhörer aus seinen Ohren. Natürlich war es eine nette Anerkennung der Menschen, dem Boten der Liebe einen Song zu widmen, aber wenn man sich den Text näher unter die göttliche Lupe nehme, so kann man zum Schluss kommen, dass es sich mehr um eine zynische Parodie an seinesgleichen als um ein Lobgesang handle.

Der Bub saß mit pickelüberströmtem Gesicht er auf seiner Lieblingswolke und sein Blick fiel auf den Köcher, indem sich die Liebespfeile befanden, die Platz teilten mit der Februar-Ausgabe des aktuellen Playboys. Doch so sehr ihm der Text des – zugegebenermaßen guten Songs – auch missfiel, musste ihn immer wieder leise nachsummen: „Amor, Stein & Eisen bricht – aber unsere Wirtschaft nicht!" Nun, allzu weit entfernt an der Realität war es nicht. In den menschlichen Zeitungen las man mehr über Promi-Herzschmerz (das mit Brangelina, Jennifer Aniston & Justin Theroux  etc. waren ausgesprochen tollpatschige Missgeschicke des Liebesgottes) und Bauer sucht Frau, dem Bachelor oder Adam sucht Eva als über den aktuellen Kursstand, schließlich müssen sich auch Zeitungen gut verkaufen. Warum sich die Menschheit sich von solch niveaubeeinträchtigten Sendungen berieseln ließ, wird Amor wohl für immer ein Rätsel bleiben. Aus Trotz feuerte er noch nie einen Liebespfeil ins Herz einer dieser Kandidaten ab.

Der Bub nahm ein goldenes Fernglas zur Hand, das im hellen Licht des Himmelreichs glitzerte, hob es an seine Augen und betrachtete von oben herab die Erde. Ein kurzer Zoom reichte, um eine leuchtende Reklame in einer deutschen Stadt namens Duisburg vernehmen zu können: „Nur zum Valentinstag! -40% auf alle Blumen!" Es wäre ja wirklich komisch, sei es nicht so traurig. Liebe wird als Treibstoff für die Maschine genannt Wirtschaft schamlos ausgenutzt. Auf sämtlichen noch so gewöhnlichen Produkten werden Herzchen draufgeklebt und in Folge dessen der Preis verdoppelt – die Krise (für die es weder einen griechischen, römischen noch nordischen Gott gibt) hat noch nicht jedermanns Geldbörse erreicht.

Er, Amor, wurde mittlerweile in der Menschenwelt ersetzt durch einen ehemaligen italienischen Heiligen und Märtyrer Valentin von Terni! AUSGETAUSCHT?! Das Sinnbild der Liebe! Und als wäre das nicht schon schlimm genug, huschte er mit seinem göttlichen Fernglas nur wenige tausende Kilometer weiter gen Norden, in die sogenannte Reeperbahn. Ebenfalls wild funkelnde rote Reklame stach ihm ins Auge. Darüber ein Ortsschild: Herbertstraße. Dort, wo die Liebe in gewissen „roten Vierteln" als Konsummittel angesehen und am Markt nach dem Prinzip Angebot und Nachfrage angeboten, was Amor natürlich wie ein Treuebruch an seine Wenigkeit empfindet. Pfui, Menschheit! Allerdings, so dachte Amor, von einer Gesellschaft, in der Instagram-Blogger als anerkannter Beruf angesehen wird, ist einiges zu erwarten...

Schon im Mittelalter musste Liebe für Macht, Gier und Geld herhalten und wurde als Vorwand genommen, Machtpositionen zwischen einzelnen Ländern zu festigen, indem sich die königlichen Dynastien untereinander verheirateten. In gewissen Ländern sucht sogar heute noch der Vater für die Tochter die Liebe ihres Lebens und übernimmt somit überhaupt Amors Job. Der perfekte Beweis, dass dieses bekannte "aus Vergangenem und der Geschichte lernen" dem Menschen nicht unbedingt bekannt ist - vor allem, wenn man sich die aktuelle Regierung in gewissen europäischen und amerikanischen Ländern ansehe.

Apropos Mittelalter: er huschte mit seinem Fernglas einige Kilometer weiter, und erschrak beim Anblick: Schlachtfelder. Blutbäder. Religiöse Fanatiker (welche nicht Amor vergöttern). Doch warum die Verwunderung? Schließlich bemerkte Amor, dass sich bei der Menschheit schon seit langem die Schere zwischen „dumm" und „klug" immer weiter auseinandergeht: die Klugen sterben aus, die Dummen werden mehr. Eigentlich logisch, schließlich heißt es bei Opferbeschreibungen stets „Er/sie war nett, freundlich, gebildet und mit viel Lebensfreude" und nicht „Er/sie war ein asoziales suizidgefährdetes Schwein". 

Am dummen Wesen wird die Welt verwesen, dachte Amor musste mit sich selbst lachen.

Er wandte das Fernglas ab. Dieses Gebiet hat Amor definitiv vernachlässigt und seinen Vater wüten lassen.

Tja, aber so ehrlich und offen musste er sein: verausgabt hat er sich mit seiner Arbeit nicht. Oft hat er der Liebe auf Erden den Zufall überlassen oder sein Ziel bei Abschüssen verfehlt. Wie um der Götter Willen soll er aber auch – zu seiner Verteidigung – mit den läppischen zwanzig Stunden Crash-Kurs im Zielschießen und dem dreistündigen Workshop über Liebe auch zum Meister werden? Woher sollte er auch wissen, was Liebe ist? Selbst seine Mutter, die berühmte Venus ließ sich von ihrem Mann Mars, Amors Vater, scheiden, da sie nicht mit seinen Kriegstreibereien auf Erden zurechtkam. Sie nannte ihn auch gerne Donald oder George, was ihm dann doch zu weit ging.

Aber war es in der menschlichen Gesellschaft, die zwar vom Affen abstammt, aber sich dessen nicht vollends distanziert, normal, eine Person (oder in diesem Fall das Symbol der Liebe höchstpersönlich) in den Wind zu schießen, wenn nicht die erwünschten Erfolge auszumachen sind? Er fing an zu zittern – hoffentlich musste er nicht noch ins Dschungelcamp, um von der Menschheit wieder beachtet zu werden. Nervös zappelte er an seinem Klappstuhl herum.

Und während Amor seinen Köcher anblickte, sich eine Flasche Jägermeister öffnete und ein weiteres Mal seine Kopfhörer in die Ohren klemmte (Schlagermusik war stets des Amors Lieblingsgenre), schossen ihm die, mehr oder weniger, witzigsten, originellsten, aber auch traurigsten und dramatischsten Liebesgeschichten, für die er die letzten Jahrhunderte verantwortlich war, wie ein Liebespfeil in seinem Sinn....

Amor, Stein & Eisen brichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt