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Ihre Augen wurden dunkler. Schlechte, verdrängte Erinnerungen erscheinen vor ihren Augen. Ein Seufzen verlässt ihre Lippen und sie schließt kurz die Augen. Sie sollten es erfahren. Es war nur fair und Geheimnis machte sie auf keines daraus. Irgendwann muss sie es erzählen. Dann hebt sie langsam ihre Hand und fährt mit den Fingern über die Narbe, die sich von ihrer Stirn bis zur Wange neben dem rechten Auge entlang zieht. Kleine, feine Narben, die man nur mit genauem hinsehen erkennt, sind auf der anderen Seite ihres Gesichts verteilt.

"Vor 3 Jahren waren ich und mein Onkel mit dem Auto auf dem Weg nach Hause. Er erzählte Witze und wir lachten uns halb tot. Die Musik lief im Hintergrund. Als sein Lieblingslied lief drehte er lauter auf und sang aus vollem Halse mit. Er konnte einfach nicht singen. Er sang schrecklich, was er auch wusste. Aber das war ja das witzige. Er fuhr auf eine Ampelgeregelte Kreuzung. Wir hatten Grün. Ein betrunkener Autofahrer ignorierte die rote Ampel. Er krachte von links in uns. Wir schleuderten und fuhren gegen eine Ampel. Unser Onkel war sofort tot. Ich lag 2 Wochen im Koma." Sie packte den Saum ihres Shirts und zog es über ihren Kopf. Darunter hatte sie einen Sport Bh an. Geschockt und knallrot anlaufend starrten sie ihre Freunde an. Sie wanderte mit ihrer Hand zu der Narbe die sich von ihren unteren Rippen bis zur anderen Seite quer über ihren Bauch zu ihrem Becken zog. "Die gehört dazu. Die Ärzte sagten selbst, dass es ein Wunder ist, dass ich noch lebe. Ich war von irgendeinem Metallteil aufgeschlitzt worden, das dann auch noch stecken blieb. Die hier-" Sie hob ihre Hand wieder zu ihrem Gesicht, aber diesmal auf die andere Seite. Die Freunde mussten genauer hinsehen, um die kleinen, feinen Schnittnarben zu erkennen, die sich über ihre Gesichtshälfte vereinzelt verteilen. "-habe von dem Glas der Windschutzscheibe." Sie ließ ihre Hand wieder sinken und deutete mit dem Zeigefinger auf die kleine, runde Narbe über ihren Schlüsselbein. "Die hier habe ich mir im Wald eingefangen. Ich und meine Geschwister sind ja geflüchtet und haben ein halbes Jahr im Wald gelebt. Auf einer Lichtung hatten wir uns niedergelassen, um die Nacht zu verbringen. Ein Wilderer hat uns mit Tieren verwechselt und geschossen. Ich bin bloß froh, dass er an unseren Schreien gehört hat, dass wir Menschen sind. Dank ihm haben wir dann das ältere Paar, Gramps und Granny, kennengelernt und wir konnten wieder von vorne anfangen." Ein Lächeln umspielt ihre Lippen bei der Erinnerung daran. Dieses verschwindet aber sofort wieder als sich ihre Fingerspitzen auf die beiden geraden Narben legen. Die eine bei den unteren Rippen quer, die anderen darunter an der Taille senkrecht. "Vor fast einem Jahr haben wir unsere 'Eltern'" Sie macht mit ihren Fingern Anführungszeichen. "wiedergetroffen. Unsere leibliche Mutter ist beim Anblick meines Bruders und seinem festen Freund ausgerastet, hat ein Messer gezückt und wollte auf ihn einstechen. Er bemerkte sie nicht, weil er seinem Freund gerade etwas erzählte. Ich bin dazwischen gesprungen. Als er mich dann blutend am Boden liegen sah mit den zwei Stichwunden ist auch bei ihm eine Sicherung durchgebrannt und mit einem Schlag hatte er das Messer in der Hand und rammte es ihr ins Schlüsselbein. Nach nur 2 Wochen wurden sie lebenslang ins Gefängnis gesteckt wegen Misshandlung und Vergewaltigung von Kindern." Kurz bleibt sie still. Leicht zittern ihre Hände. Man sieht ihr an, dass es ihr schwer fällt die Fassung zu bewahren bei den Erinnerungen. Tief atmet sie ein und langsam wieder aus. Dann wandert ihre Hand tiefer. Ein wenig zieht die den Bund ihrer Hose nach unten und offenbart damit eine weitere Narbe. "Die zwei habe ich von einer Blinddarm Operation." Ein kurzer Satz, den sie leichthin sagt, als wäre es gar nichts. Wenn man die Geschichten hinter den anderen Narben hört, ist es auch gar nichts im Vergleich. Dann hebt sie ihre Hände und zeigt ihre Handflächen. Diese Narben kennen die Freunde schon. Zuerst deutet sie auf die oberen Ballen. "Die Schrammen habe ich vom klettern. Bin abgerutscht." Sie redet aber von keinen Kletterwänden, wie man jetzt wahrscheinlich denkt. Die, die sie kennen wissen, dass sie eine Stufe wilder ist und von Felsen redet. Ihre Bindung zum Wald ist erschreckend und faszinierend zugleich. "Die auf den unteren Ballen sind vom laufen. Ich habe schon öfters eine Wurzel zu spät gesehen und bin gefallen.", grinst sie. Dann deutet sie auf ihre Knie. Diese Schrammen kennen die Freunde auch schon. "Hier dasselbe." Dann dreht sie sich um und hebt ihre Haare beiseite. Scharf wird die Luft eingesogen. Über ihren gesamten Rücken ziehen sich mehrere lange und kurze Narben. "Da bin ich im Wald beim Laufen von einem Vogel überrascht worden, auf die Seite gestolpert und einen Hang runter gerutscht. Dabei bin ich über einige spitze Steine und harte Äste und hab' mir den Rücken aufgerissen. Das Resultat war ein weiterer Krankenhausbesuch." Leise lacht sie bei der Erinnerung an den Arzt, der sie lachend fragte was sie denn schon wieder angestellt hatte. Er kannte sie schon, denn er hatte sie immer behandelt. Wieder dreht sie sich um und hebt ihren rechten Fuß. "Vor exakt eineinhalb Jahren und 8 Tage bevor ich von unserer Mutter fast erstochen wurde, war ich gerade einkaufen. Vor einem Blumenladen stand ein kleines Mädchen das auf ihre Mutter gewartet hatte. Sie schnupperte an den Rosen. Plötzlich zog ein Mann vor dem Zebrastreifen mit einem verrückten Lachen eine Pistole und zielte wahllose auf das Mädchen ich habe sie beiseite geworfen und ein Springmesser, das ich immer dabei habe, auf ihn geworfen. Ich habe ihn beim Schlüsselbein getroffen. Er mein Fußgelenk. (Das folgende ist nicht recherchiert. Ich habe keine Ahnung, ob es stimmen könnte) Die Ärzte meinten es wäre noch zu retten, aber Sport wäre unmöglich. Also habe ich mich für eine Amputation entschieden. Ohne Sport kann ich nicht leben. Das wisst ihr ja bereits. Außerdem helfe ich auf dem Hof von Gramps und Granny. Da gehts ohne nicht. Mit der Prothese komme ich mittlerweile so gut zurecht wie mit dem gesunden Fuß." Wieder lächelt sie. Sie stellt sich wieder normal hin und lächelt leicht zu ihren geschockten Freunden. "Ich glaube, wenn ich meine Geschwister nicht hätte, hätte ich schon lange aufgegeben. Ich bin froh, dass ich gekämpft habe. Außerdem finde ich die Narben und den Stummel (das amputierte Fußgelenk) gar nicht hässlich. Ich finde Narben cool. Sie zeigen, dass man den Schmerz durchgestanden hat und weiterkämpft. Und ich mache meinem Spitznamen 'die Kriegerin' offensichtlich alle Ehre" Immer noch lächelt sie und lacht leise auf, aber es glänzen Tränen in ihren Augen. Das ist der Startschuss. Ihre Freunde schießen auf sie zu und sie befindet sich in einer Gruppenumarmung ihrer 3 Freunde. Nach einer Schrecksekunde kann sie die Tränen nicht mehr halten und weint leise an die Schulter ihres besten Freundes der nur bei ihr seine fröhlich, kindliche Maske ablegt.

Was sie nicht bemerkt haben sind ihre beiden Geschwister, die weinend mit ihren festen Freunden hinter der Hausecke stehen und alles gehört haben.

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