Seufzend lege ich mein rechtes Bein auf die dritte Sprosse der Leiter, die zu einem unbenutzten Hochbett gehört. Wir teilen uns zu zweit ein Zimmer mit vier Betten und das ist bei fast allen Mädchenzimmern hier so, damit wir an den Wochenenden bei anderen übernachten können. Während ich mein Standbein einige Male beuge und strecke, erhebt sich meine Mitbewohnerin, Caroline, von ihrem Schreibtisch. ,,Ich geh mir was zu essen holen. Soll ich dir was mitbringen? Ich glaube, es ist Eis da.", erwartungsvoll sieht sie mich an. ,,Danke, lass mal.", winke ich ab und beuge meinen Rumpf, bis ich mit der Nase das Knie berühren kann. Als die Türe hinter Caro ins Schloss fällt, verdrehe ich die Augen. Nicht wegen meiner Mitbewohnerin, die ist ganz in Ordnung, aber dieses Internat treibt mich wirklich in den Wahnsinn. Es bietet keinen Tanzunterricht an, noch nicht einmal eine Tanz AG für Amateure und es ist so in der Pampa von New York gelegen, dass ich auch im nächsten Dorf, Adams Village, welches zu Fuß über eine halbe Stunde von hier entfernt ist, keinen Tanzunterricht bekommen kann. Wieso verbannen mich meine Eltern aufs Land? Ich meine, wenn man schon gezwungen wird, in New York zu leben, sollte es dann nicht vielleicht New York City sein? Ach nein, da gibt es sogar mehrere richtig gute Tanzschulen und meine Eltern haben nach dem letzten halben Jahr begriffen, dass ich erfinderisch genug bin, um mir das zu organisieren, was ich brauche. Selbst wenn ich irgendwo Ballettstunden bekommen könnte, dank des straffen Zeitplans hier, könnte ich sowieso nicht teilnehmen. Erstmal haben wir jeden Tag ewig Schule, dann müssen wir langweilige Aktivitäten machen, zum Beispiel Töpfern, Foto-AG, Hockey, Netball oder Lacrosse, zum Glück finden die nur an vier Tagen der Woche statt, Freitags haben wir zwei Stunden mehr Freizeit, weil da auch die Prep Time wegfällt. Die Prep Time, noch etwas, was ich an diesem Ort hier hasse. Ich meine, welcher normale Mensch macht täglich zwei Stunden Hausaufgaben? Die erste Stunde findet immer nach den Hobbygruppen und vor dem Abendessen statt, das Einzige, was wir dazwischen dürfen, ist, unsere Schuluniformen gegen normale Kleidung auszutauschen. Wer in dieser Stunde mit all seinen Hausaufgaben fertig wird, darf aber nicht gehen, sondern muss bleiben und lernen, am Handy zu sein ist untersagt. Danach gibt es Abendessen und danach die zweite Prep Time. Kurze Zeit später ist bereits Nachtruhe. Von einem eigenen Leben hat man praktisch gar nichts. Und dann die Ernährung: ungesundes fettiges Essen, die Salattheke ist eher spärlich bestückt und das einzige Obst, das es gibt, sind verschrumpelte, eingedellte Äpfel und angeschimmelte Orangen. Unten in der Küche dürfen wir uns nach dem Abendessen jederzeit bedienen, es gibt Toast, Erdnussbutter und Nutella, im Kühlschrank stehen Eis und Milch und wenn wir nach den Hobbygruppen zum Wohnhaus gehen, um uns umzuziehen, steht in der Küche jeden Tag ein neuer Kuchen, von dem wir uns ein Stück in die Prep Time mitnehmen dürfen. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich hier richtig fett, beim Mittag- und Abendessen gibt es auch jedes Mal Kuchen. Inzwischen habe ich meine Methoden, damit umzugehen. Jedes Wochenende laufe ich in das kleine Dorf nebenan. Dort gibt es einen winzigen Lebensmittelladen, in dem ich für die gesamte Woche einkaufe. Karotten, frischen Salat, Obst, fettarmen Joghurt fürs Frühstück, kalorienarme und zuckerfreie Müsliriegel, Vollkornbrot, das ich immer belege und mir zum Mittagessen mit in die Schule nehme, zusammen mit einem großen Salat, weil das Wohngebäude mit der Küche immer den ganzen Vormittag bis kurz vor der Prep Time abgeschlossen ist. Für die Abende besorge ich mir immer etwas anderes, und nachdem ich den anderen im Haupthaus etwa zehn Minuten lang beim Essen zugesehen habe, gehe ich zurück und koche mir etwas Anständiges. Heute hatte ich zum Beispiel Gemüseeintopf. Auch dem Tagesplan kann man entrinnen, wenn man es geschickt anstellt. Ich habe mich an zwei Tagen in der Woche für den Chor eingetragen, dienstags und donnerstags, denn im Chor überprüft niemand die Anwesenheit der Schüler, die Lehrerin und Leiterin dieses Chors, Mrs Parker, ist zu verpeilt dazu. Deshalb bin ich so gut wie nie im Chor, stattdessen schleiche ich mich nach oben, zur alten Theaterbühne, um dort heimlich ein wenig zu tanzen, damit ich nicht ganz außer Form gerate. Ich glaube nämlich immer noch daran, dass ich es irgendwie schaffen kann, hier wieder wegzukommen. Meine Eltern werden ihre Meinung über das Ballett schon ändern, sie müssen einfach. Montags und mittwochs sieht die Sache nicht ganz so unkompliziert aus, mittwochs habe ich mich für Fitness angemeldet und sobald der Sportlehrer, Mr Brian, die Anwesenheitsliste mit uns durchgegangen ist, dürfen wir mit den Geräten machen was wir wollen und er kommt nur ab und an noch vorbei. Ich schlüpfe dann immer in Halle zwei, die zwischen 16 und 17 Uhr nicht genutzt wird und trainiere da. Es ist schwierig. Bisher hatte ich eine Lehrerin, die mir gesagt hat, was ich machen muss und was ich verbessern kann. Unsere Ballettgruppe bestand aus sieben Mädchen und wir hatten einen professionellen Lehrplan. Es gab auch Prüfungen und wir hatten häufig Auftritte. Ich vermisse das alles sehr, denn jetzt muss ich selbstständig weitermachen und das bedeutet, ich muss noch selbstkritischer sein als ohnehin schon. Montags habe ich mich zum Töpfern eingetragen und dann der Lehrerin gesagt, dass ich wechseln würde. Wohin habe ich ihr nicht gesagt und seitdem bin ich montags für keine Hobbygruppe mehr angemeldet. Caro kommt zurück, gerade als ich zu Ende gedehnt habe. In der einen Hand hält sie eine Schüssel mit Eiscreme, in der anderen einen Teller, auf dem zwei Scheiben Toast mit Nutella liegen. Sie wirft sich auf ihr Bett und fängt genüsslich an zu schmatzen. ,,Was machst du eigentlich während der Ferien?", fragt sie mich irgendwann. ,,Keine Ahnung.", erwidere ich und fange an im Kopf nachzurechnen. Ich bin seit sieben Wochen hier, das heißt in einer Woche sind Ferien. Dann ist die Hälfte des Trimesters vorbei und ich bin immer noch hier. Die Ballettschule, die ich besucht habe, als ich noch in Kalifornien gewohnt habe, hat mich inzwischen aufgegeben. Ich bin in ihren Augen keine potenzielle Profitänzerin mehr, da ich viel zu lange Pause hatte. Sieben Wochen ohne Ballettunterricht und dazu kommen noch die drei Wochen Sommerferien, in denen meine Eltern mich nicht mehr zum Ballett gelassen haben. Ich fühle mich schrecklich isoliert und vermisse mein normales Leben. Das letzte halbe Jahr war anstrengend, weil meine Eltern aufgehört haben, meine Stunden zu bezahlen, aber ich habe es ja trotzdem geschafft, sechs Mal pro Woche ins Training zu gehen. Ich habe mir das alles selbst finanziert, mit meinem Taschengeld und Nebenjobs und irgendwie bin ich so zurechtgekommen. Ich bin mit meinem Leben mal sehr glücklich und zufrieden gewesen.
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Hinter Glasaugen
Random,,Ist ganz schön viel Druck.", stellt Louis fest. ,,Was?", frage ich irritiert und setze mich neben ihn. ,,Na ja, immer perfekt zu sein. Die besten Füße zu haben, die beste Figur, die beste Technik, die höchste Schmerzgrenze, das alles eben.", erklä...