Bis nach New York City zu trampen hat gar nicht so lange gedauert, wie ich dachte, weshalb ich einen Tag früher ankomme, als geplant. Das ist nicht schlimm, dann muss ich für meine Unterkunft eben mehr bezahlen. Meine Unterkunft ist in einem kleinen Hotel, in dem zu meinem Glück schon Zimmer für die Prix-Teilnehmer gebucht sind, sonst käme ich nirgends unter, weil ich selbst zu jung bin, um ein Zimmer zu buchen. Ursprünglich habe ich damit gerechnet, erst am Sonntag anzukommen und dann am Montag vorzutanzen, aber ich bin seit Samstagabend hier und nachdem ich mich gestern, also am Sonntag, noch ein letztes Mal ganz ausführlich vorbereitet habe, geht es heute los. Mit der Konkurrenz ist das im Ballett so eine Sache, es ist schwer zu erklären. Es beginnt damit, dass man ständig beobachtet wird und alle vergleichen. Dabei geht es nicht nur um das Tanzen, auch auf die Figur und die Ernährung wird geachtet. Wer als ernstzunehmende Konkurrentin gilt, kann sich auf jeden Fall auf fiese Sticheleien und kleine bis größere Pannen einstellen, zum Beispiel Juckpulver im Make-up oder Reißnägel in den Spitzenschuhen. Ich werde, wie wahrscheinlich jede und jeder beim Youth America Grand Prix, die anderen genau beobachten, aber ich habe nicht vor, meinen größten Konkurrenten zu schaden. Ich will diesen Prix mit fairen Mitteln gewinnen und nicht durch Intrigen. Sonst zählt es ja gar nicht. Sonst wäre ich ja nur deshalb die Beste, weil alle, die besser sind als ich, nicht da wären. Die Frage ist nur, wie ich auf die anderen Mädchen beim Prix reagieren soll. Um es mal so zu sagen, ich gehöre zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, die zufrieden mit ihrem Körper sind. Ich bin schlank und mittelgroß, kein Riese und auch kein Zwerg und ich habe zwar eine Oberweite, aber die ist so klein, dass sie mich nicht im Geringsten beim Tanzen stört. Manche würden sagen, ich habe noch den Körper eines Kindes, aber ich bin damit vollkommen zufrieden. Ich finde, ich habe genau die Figur einer Tänzerin. Das Geheimnis dahinter ist nicht, weniger zu essen oder zu erbrechen, sondern das Richtige zu essen, aber das ist ohnehin den meisten Tänzern klar. Vermutlich ist an dem Vorurteil, dass Ballerinas häufiger an Essstörungen leiden als ,normale' Menschen, schon irgendwas dran, aber die Wahrheit ist: Wenn wir nicht essen haben wir keine Kraft und das senkt auch die Leistung. Diejenigen mit der Essstörung sind eher die Amateure, die keine Ahnung haben. Ich bin nur ein wenig unentschlossen, ob ich mein Licht nicht vielleicht etwas unter den Scheffel stellen sollte, da ich nicht das Bedürfnis habe, ständig zu kontrollieren, ob meine Spitzenschuhe noch in Ordnung sind. Andererseits, wenn ich mir jetzt einen viel zu großen Hoodie anziehe und mich die ganze Zeit verstecke, während ich mich aufwärme, dann wird das nur dazu führen, dass die anderen Mädchen mich noch länger anstarren. Also entscheide ich mich für ein enganliegendes schwarzes Sweatshirt und eine Skinnyjeans, die ich über ein schwarzes Trikot ziehe. Meine langen blonden Haare habe ich schon zu einem Dutt hochgesteckt, also muss ich im Theater nur noch meine Spitzenschuhe anziehen. Nina hat mir direkt nach unserem Telefonat meine zwei Kostüme per Express geschickt, sodass ich perfekt ausgestattet bin. Und mit meiner schweren Tanztasche mache ich mich jetzt auf den Weg zur 417 fifth Avenue.
,,Wir legen mit einem kleinen Aufwärmtraining los, Leute!", befiehlt uns Dan. Seinen Beruf habe ich schon wieder vergessen, irgendein Manager hier oder so, es hat nichts mit Ballett zu tun, folglich interessiert es mich nicht. Ich ergattere einen Platz ganz vorne an der Stange, sodass ich von der Bühne aus in den Orchestergraben schauen kann, ich kann sogar die leeren Sitze sehen und die Juroren sitzen schon da und beobachten uns kritisch. Nachher wird hier ein riesiges Publikum sitzen und uns zujubeln. Wieso stehe ich jetzt eigentlich als Einzige bei den Jungen? Dan hat doch gar nichts davon gesagt, dass wir nach Geschlechtern getrennt werden? Soll ich mich vielleicht doch woanders hinstellen, an den Stangen auf der linken Seite stehen alle Mädchen. Aber da sind nur noch Plätze in der Mitte frei und da wird mich die Jury zu hundert Prozent übersehen. Dann werde ich eben hierbleiben, auf der rechten Seite, bei den Jungs, wo ich von vorneherein Eindruck auf die Jury machen kann. Ich muss es irgendwie schaffen, einen Eindruck bei den Preisrichtern zu hinterlassen, damit sich in ihren Hinterköpfen eine Erinnerung an mich regt, wenn ich die Coppelia tanze. Nicht, dass sie mich dann besser bewerten würden, aber sie werden vielleicht denken: ,,Ach ja, das war doch Skye Mathew, die...", und dann etwas Positives über mich. Dan, der anscheinend doch etwas vom Tanzen versteht, erklärt uns im Schnelldurchlauf die Pliés, bevor wir Musik bekommen. Zum ersten Mal seit inzwischen elf Wochen ohne richtiges Training habe ich wieder das Gefühl, dass mein Leben perfekt ist. Es ist unbeschreiblich. Es ist herrlich. Ich bin ziemlich enttäuscht, als Dan nach einigen weiteren Übungen verkündet, dass wir jetzt Trinkpause haben, ich hätte noch eine Weile so weitergemacht, obwohl ich sehr durstig bin. Aus meiner Plastikflasche nehme ich, nun doch dankbar für die kleine Verschnaufpause, zwei tiefe Schlucke Wasser, die ich augenblicklich wieder ausspucke. ,,Bäh!", mache ich entsetzt und starre ungläubig die Flasche in meiner Hand an. Das Wasser ist salzig. Dabei war das Wasser aus der Leitung im Hotel und das habe ich gestern Abend noch ganz normal getrunken. Und allmählich dämmert mir, dass ich wohl eine sehr ernstzunehmende Konkurrentin für irgendjemanden hier bin. ,,Intrigen?", fragt eine belustigte Stimme neben mir. ,,Intrigen.", bestätige ich seufzend und zucke mit den Schultern. ,,Fühl' dich geehrt. Sie haben Respekt vor dir.", ich sehe meinen Gesprächspartner, einen Jungen, etwa in meinem Alter mit braunen, verstrubbelten Haaren und graublauen Augen, halb vorwurfsvoll, halb belustigt an, als ich entgegne: ,,Wohl eher vor meinen Tanzkünsten. Hätte irgendwer hier Respekt vor mir, müsste ich jetzt nicht verdursten." ,,Ich habe Respekt vor dir.", witzelt er und hält mir seine Wasserflasche hin. ,,Danke.", lächele ich und nehme einige kleine Schlückchen, um ihm nicht alles wegzutrinken. ,,Ich bin Louis. Und du?", redet er weiter, während Dan jemanden schickt, der die Sauerei wegmachen soll, die ich angerichtet habe. ,,Skye.", antworte ich und reiche ihm seine Flasche zurück. ,,Welche Variation hast du dir ausgesucht?", erkundige ich mich und mustere ihn interessiert. Irgendetwas in seinem Gesicht verleiht ihm einen frechen Ausdruck, ich komme nur nicht darauf, was. ,,Prinz Siegfried. Du siehst aus wie eine, die Clara tanzen würde.", stellt er fest. ,,Falsch.", grinse ich triumphierend. ,,Coppelia.", füge ich hinzu. Er pfeift leise durch die Zähne: ,,Respekt. Tanzt du heute oder morgen vor?", fragt er, während wir auf die Bühne zurückkehren. ,,Heute. Und du?", will ich wissen. ,,Morgen. Aber ich bleibe noch, um mir die anderen Teilnehmer anzuschauen."
,,Dann wollen wir mal die Pirouetten en dehors und en dedans machen.", ruft Dan und beginnt zu zählen. Nach den Pirouetten machen wir mit Coupés raccourcis weiter, eine sehr schnelle Übung, die mit einem Coupé raccourci beginnt und zudem komplizierte Abfolgen von Assemblées und Sissonnnes enthält. Es ist sehr anstrengend, weil man die meiste Zeit springen und trotzdem im Takt bleiben muss. Nach zwei weiteren Übungen mit Sprüngen, die nicht weniger schnell sind, machen wir noch Fußübungen, damit wir wirklich aufgewärmt sind und dann entlässt Dan uns mit den Worten: ,,In einer Stunde geht es los, also ruht euch aus, zieht eure Kostüme an, das Publikum wird demnächst eingelassen, aber wir schließen den Vorhang, sodass ihr bei Bedarf noch einige Passagen ein letztes Mal durchgehen könnt. Viel Glück." Es folgt höflicher Applaus von allen Teilnehmenden und dann fällt der Vorhang. ,,Jetzt", denke ich freudig, ,,geht es wirklich los!"
________________________
Hallo ihr Lieben,
Ich wollte eigentlich schon heute früh updaten, aber ich habe verschlafen... also kommt das Kapitel erst jetzt, ich hoffe, dass ist kein Problem für euch.
Eine gute Woche euch allen,
Eure Lillesang
DU LIEST GERADE
Hinter Glasaugen
De Todo,,Ist ganz schön viel Druck.", stellt Louis fest. ,,Was?", frage ich irritiert und setze mich neben ihn. ,,Na ja, immer perfekt zu sein. Die besten Füße zu haben, die beste Figur, die beste Technik, die höchste Schmerzgrenze, das alles eben.", erklä...