Kapitel 15

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Er ist da. Der lang ersehnte Tag des Finales. Ich muss mein Frühstück und mein Mittagessen regelrecht in mich reinzwingen, so unwohl fühle ich mich. ,,Iss auf, Skye. Sonst geht es dir am Ende wie Leslie. Du schaffst das.", rede ich mir selbst gut zu. Als ich am späten Nachmittag das Theater erreiche, merke ich, dass es den anderen nicht anders geht. Die Stimmung ist gedrückt, alle sind aufgeregt und tatendurstig zugleich. Mein Kostüm ist heute sehr unauffällig, es ist ein unscheinbares schwarzes Trikot, an das ein schwarzer Rock genäht ist, der oberhalb meines Knies aufhört. Darunter trage ich wie eh und je eine helle Strumpfhose, die fein und elastisch ist. Mechanisch beginne ich mich zu schminken und bemale die Augen, bis sie in meinem blassen Gesicht riesig wirken. Meine Haare sind noch ein wenig feucht vom Duschen und so fallen sie mir wie ein spinnwebfeiner blonder Schleier über den Rücken, bis ich sie kämme, hochstecke und das Ganze mit Haarspray fixiere. Das Wesen, das mir aus dem Spiegel in der Garderobe entgegenblickt, hat kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Mädchen, das vor einer knappen Woche nach New York City aufgebrochen ist. Ich gehe in den Vorbereitungsraum, in dem ich mich am Dienstag noch mit Louis unterhalten habe und sehe, dass an den Spiegel dort eine Liste geheftet wurde, auf der die Reihenfolge der Tänzer steht und eine ungefähre Uhrzeit. Der Wettbewerb endet gegen 23 Uhr und ich stehe irgendwo in der Mitte der Liste, also rechne ich damit, dass ich zwischen 20:30 und 21 Uhr dran sein werde. Dann bringt es wohl nicht besonders viel, schon mit dem Aufwärmen anzufangen. Weiter hinten im Raum keifen sich zwei Mädchen an und die eine beschuldigt die andere gerade, ihr Haarspray gegen Pfefferspray ausgetauscht zu haben. Ein klein wenig tut das Mädchen mir leid, denn sie hat ihren gesamten Kopf mit dem Spray eingenebelt und nun tränen ihr die Augen und ihre Kopfhaut brennt. Andererseits hat sie keine Beweise für ihre Beschuldigungen und beschimpft ihre Konkurrentin trotzdem aufs Übelste. ,,Diese ewigen Intrigen gehen mir echt auf den Keks.", schnaubt Louis, der wie aus dem Nichts neben mir auftaucht. ,,Mir auch. Die Stimmung hier ist echt im Keller.", stimme ich zu. ,,Dabei habe ich mich so auf diesen Wettbewerb gefreut. Aber sämtliche Teilnehmer benehmen sich wie Kindergartenkinder.", füge ich enttäuscht hinzu. ,,So ist das als Profi bestimmt dauerhaft.", vermutet Louis. ,,Toller Trost.", schimpfe ich. ,,Hey, wir sind das doch beide schon längst gewöhnt, oder? Und es ist trotz allem unser großer Tag. Und der wird besonders.", versucht er mich aufzumuntern. Ich muss lächeln. ,,Hast ja recht. Lass uns einfach daran denken, dass es unser großer Traum ist. Den können auch so ein paar kleine Konkurrenzkämpfe und Intrigen nicht kaputt machen.", beschließe ich. ,,Wollen wir raus? Wir sind beide erst in einigen Stunden dran und wenn ich hier bleibe, fällt mir die Decke auf den Kopf.", schlägt er vor. ,,Ich bin schon umgezogen und alles. Bis ich wieder so aussehe, dass ich unter die Menschen gehen kann, muss ich vortanzen.", wende ich ein. ,,Quatsch. Zieh einfach deine Kapuzenjacke und deine Schuhe an, das dauert fünf Sekunden." Skeptisch mustere ich ihn, und sehe ein, dass er recht hat. Er ist auch schon umgezogen, sein Kostüm besteht aus einer schwarzen Leggins und einem weißen T-Shirt. Darüber zieht er nun einen dunkelgrauen Pullover und streift sich seine Turnschuhe über. ,,Okay.", willige ich ein, ,,Aber wir sind pünktlich wieder hier.", warne ich ihn vor. ,,Aye, aye, Chef!", grinst er und salutiert. Ich verdrehe die Augen, laufe vor ihm her zurück in meine Garderobe und komme kurz darauf mit Schuhen und meiner schwarzen Kapuzenjacke wieder heraus. Ich freue mich darauf, kurz durch New York City zu laufen, denn seit ich hier angekommen bin, habe ich nur trainiert, vorgetanzt und mich ausgeruht, von der Stadt habe ich rein gar nichts gesehen. Draußen weht ein kühler Wind und ich wünschte, ich hätte wenigstens Stulpen über die Strumpfhose gezogen. Egal, Louis und ich schlendern nebeneinander die Fifth Avenue entlang, bis wir den Bryant Park erreichen. Wir gehen an einem riesigen Bibliotheksgebäude vorbei und kommen zu einer Eislaufarena. Aber es ist erst Anfang November und so ist die Eislaufbahn noch nicht in Betrieb. Trotzdem klettern wir über den Zaun in den abgegrenzten Bereich und versuchen in unseren Turnschuhen über den Steinboden zu schlittern, die Kälte ist längst vergessen. Ich drehe im Sprung eine Pirouette und lande wieder auf beiden Füßen, danach versucht er mich in einer Art Hebefigur hochzuheben. Einige Sekunden bin ich in der Luft, Louis stützt mich von unten und meine Füße berühren meinen Hinterkopf. Dann drohe ich, zur Seite abzustürzen und er beeilt sich, mich abzusetzen, allerdings etwas zu schnell, sodass wir am Ende beide auf dem Hosenboden landen. Ich fange an zu lachen und beobachte, wie mein Atem in der klirrend kalten Luft weiß wird. ,,Wir sind vielleicht Amateure!", prustet er los. ,,Wir schaffen es ja nicht mal ohne Eis.", ergänze ich und muss noch mehr lachen. Er springt auf und ruft: ,,Ich habe so einen Hunger, lass uns was essen." ,,So kurz vor dem Tanzen? Ich weiß nicht...", äußere ich meine Bedenken. ,,Vertrau mir, ich kenne ein Mittel, damit du dich nach dem Essen nicht so voll fühlst und später perfekt tanzen kannst.", schlägt er meinen Einwand in den Wind. ,,Versprochen.", setzt er hinzu und reicht mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Also vertraue ich ihm, lasse mich hochziehen und gleich darauf betreten wir eine Konditorei. Zuerst bin ich skeptisch und möchte ihn fragen, ob wir nicht etwas Gesundes essen können, aber die Torten sehen so gut aus, dass ich beschließe, zur Feier des Youth America Grand Prix eine Ausnahme in meinem Ernährungsplan zu machen. Ich habe heute wahrscheinlich sowieso viel zu wenig gegessen, ein paar Kalorien können also nicht schaden.

Als wir den Laden wieder verlassen, fühle ich mich vollgestopft und habe Angst, erbrechen zu müssen. ,,Was ist jetzt mit deinem Wundermittel?", will ich neugierig wissen. ,,Tja...", macht er geheimnisvoll. ,,Ich kann's dir leider nur ins Ohr sagen.", grinst er und zwinkert mir schelmisch zu. Ich schaue mich um, ob uns jemand belauscht, dann recke ich ihm mein Ohr entgegen. ,,Es ist...", wispert er kaum hörbar in mein Ohr und sein Atem kitzelt beim Sprechen meine Wange. ,, ...ein Wettrennen! Wer als erster beim Times Square ist!", ruft er triumphierend und rennt los, wie ein kleines Kind beim Fangspiel . Und ich dachte die ganze Zeit, er sei fünfzehn Jahre alt, so wie ich. ,,Das ist nicht dein Ernst, oder?", rufe ich ihm nach, obwohl er schon längst um eine Hausecke verschwunden ist. Es kommt keine Antwort, also offensichtlich doch. Ich flitze los und renne was das Zeug hält, bis ich Louis vor mir sehe. Ich jage ihm durch das nächtliche New York City nach und schaffe es, kurz bevor wir den Times Square erreichen, ihn einzuholen. Gleichzeitig betreten wir den hell erleuchteten, mit Menschen und Autos überfüllten Platz. ,,Na, wirkt mein Heilmittel?", will er wissen und grinst verschmitzt. ,,Ach, halt die Klappe.", antworte ich leichthin und gebe ihm einen Klaps vor die Brust. Irgendwo schlägt eine Turmuhr und meine gute Laune wird von einer panischen Angst verdrängt. ,,Louis! Louis, wie spät ist es?", frage ich erschrocken und starre ihn mit großen Augen an. Umständlich kramt er sein Handy aus der Tasche seines Pullovers. ,,Viertel nach acht, alles gut.", sagt er beruhigend. Ich bin vor Schreck wie gelähmt. ,,Alles gut?", meine Stimme klingt schrill. ,,Ich bin in einer Viertelstunde dran und muss mich noch aufwärmen! Nichts ist gut.", Adrenalin beginnt wie wild durch meine Adern zu pumpen. ,,Reg' dich ab, ich rufe uns ein Taxi und...", beginnt er, aber er kommt nicht weit. ,,Es ist zu voll, mit dem Auto schaffen wir das nie!", keife ich dazwischen. ,,Okay, dann rennen wir wieder.", beschließt er, packt mich am Arm und rennt los. Wir rennen den Gehweg entlang, überqueren eine rote Ampel und drängeln uns durch eine Touristengruppe.
Aber als Louis und ich eine verlassene Straße passieren, flammen plötzlich gleißende Lichter neben uns auf, eine Bremse quietscht und irgendetwas Hartes wird gegen mich geschleudert. Einen Moment fliege ich und erwarte fast, wieder mit Louis auf der Eisbahn zu sein, dann fühle ich einen weiteren, schmerzhaften Aufprall. Mir ist schwindelig und ich spüre den rauen Asphalt an meiner Wange. Um mich herum sind aufgeregte Stimmen. Stöhnend hebe ich meinen Kopf ein kleines Stück und sehe ein stehendes Auto gegenüber von mir. Mein Schädel brummt und mein Nacken tut weh, weshalb ich den Kopf wieder auf den Asphalt sinken lasse. ,,Der Wettbewerb!", schießt es mir durch den Kopf und ich versuche aufzustehen, aber meine Beine gehorchen mir nicht und mein Rücken tut weh. Alles tut mir weh und es ist viel schlimmer als die Schmerzen, die ich beim Tanzen aushalten muss. Ich merke, dass ich angefangen habe zu weinen. Eine Sirene ertönt und ich sehe blaues Licht. Als nächstes sind mehrere Menschen bei mir, die mir sagen, dass alles gut wird. ,,Meine Beine, meine... meine Beine.", stottere ich ängstlich zwischen zwei abgehackten Schluchzern. Wieder habe ich das Gefühl zu fliegen, nur dieses Mal nicht so schnell, es gleicht eher einem gleichförmigen Schweben. Ich schwebe dem blauen Licht entgegen und lasse zu, dass meine Augen zufallen, denn selbst durch die geschlossenen Lider habe ich noch immer das Gefühl, das Licht zu sehen.
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Leute,
das hier ist der letze Teil! Jetzt kommt nur noch der Epilog und dann ist es vorbei... Wahnsinn, wie schnell die letzten Wochen vergangen sind. Und vor allem... ok, nein, den Rest packe ich in das finale Nachwort, noch ist es nicht so weit. Bis Dienstag,
Eure Lillesang

Hinter GlasaugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt