Kapitel 13

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Es ist Dienstag und nachher werden die Preisrichter ausrufen, wer es ins Finale geschafft hat. Ich bin so nervös, dass ich viel zu früh im Theater ankomme. Ich beschließe, durch den Künstlereingang hinter die Bühne zu gehen, vielleicht finde ich ja jemanden, der Lust hat, sich mit der Konkurrenz zu unterhalten. Ich laufe bereits seit einer Weile zwischen den Bühneneingängen herum, als mir auf einmal Leslie entgegenkommt. Leslie und ich waren zu Hause in derselben Ballettgruppe und es freut mich zu sehen, dass ihre Bewerbung auch angenommen wurde. ,,Hi!", begrüße ich sie strahlend. ,,Hey.", murmelt sie und bleibt neben mir im zweiten Bühneneingang von hinten stehen. ,,Alles okay mit dir? Du bist ganz blass.", frage ich und mustere sie besorgt. Sie sieht echt kläglich aus, als wäre sie krank. Sie nickt nur und lächelt etwas, aber es wirkt nicht allzu überzeugend. Auf ihrer Stirn steht kalter Schweiß und ihre Hände zittern. ,,Ist sicher nur die Aufregung.", fügt sie hinzu, als sie meinen Blick auffängt. Das macht mich stutzig, Leslie gehört normalerweise nicht zu den Menschen, die sich vor Nervosität ganz verrückt machen, selbst bei den alljährlichen Prüfungen ist sie immer ruhig und gefasst geblieben. Ihr Name wird aufgerufen und ich schaffe es gerade noch, ihr viel Glück zu wünschen, ehe sie auf die Bühne trippelt. Die Musik setzt ein und Leslie verpasst um ein Haar ihren Einsatz. Bestürzt muss ich erkennen, dass ihre Bewegungen nicht wie sonst vor Kraft, Eleganz und Stolz nur so strotzen, sondern im Gegenteil, untypisch ungelenk und hektisch wirken. Ich verstehe das einfach nicht, das passt so gar nicht zu ihr. Ob sie sich gedopt hat und das nicht verträgt? Ich komme nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn in dem Moment passiert es: Als Leslie eine Arabesque auf ganzer Spitze macht, knickt ihr Standbein ein und sie fällt zu Boden. Das Publikum hält den Atem an, doch Leslie steht nicht wieder auf. Wie eine Puppe bleibt sie kraftlos am Boden liegen und ich sitze neben ihr, ohne zu wissen, wie ich auf die Bühne gekommen bin. ,,Leslie, kannst du mich hören?", frage ich ängstlich und nehme ihre Hand. Ihre Augenlider flackern und ihr Atem geht flach. Dan ist als nächstes bei ihr, sanft aber bestimmt schiebt er mich ein Stück zur Seite und kontrolliert ihren Puls und fängt dann an, nach einem Krankenwagen zu brüllen. Irgendjemand lässt den Vorhang herab und macht die Musik aus, außer Leslies Mom, die hysterisch in ihr Handy weint und versucht einen Krankenwagen zu rufen, ohne sich an die Adresse des Theaters zu erinnern, ist jetzt nichts mehr zu hören. Der Krankenwagen lässt lange auf sich warten und die Sanitäter stellen Leslies Mom in einem fort Fragen, während sie Leslie untersuchen. Nach einer gefühlten Ewigkeit legen sie ihr eine Infusion an und tragen sie auf einer Liege nach draußen. Dan tritt auf die andere Seite des Vorhangs, entschuldigt sich beim Publikum und der Jury für die Verzögerung durch einen kleinen Schwächeanfall und sagt, dass wir jetzt direkt den nächsten Kandidaten zu sehen bekommen. Der nächste Kandidat ist Louis. Ich stehe wieder am Seiteneingang der Bühne und schaue ihm zu ohne wirklich hinzusehen. Er tanzt gut, seine Bewegungen sind weich und flüssig und er lächelt die ganze Zeit beim Tanzen, nicht nur mit seinem Mund, auch sein Körper scheint zu strahlen. Als Dan an mir vorbeigeht, reiße ich meinen Blick von Louis, denn ich muss wissen, was genau mit Leslie ist. ,,Dan! Was soll das heißen, Leslie hatte einen kleinen Schwächeanfall? Ist sie krank?", bohre ich nach. Er wirkt gestresst und seine Antwort klingt ein wenig genervt: ,,Es is' alles im grünen Bereich, okay?" ,,Aber warum ist sie dann zusammengebrochen?", ich flehe ihn förmlich an, mir mehr zu sagen, doch er schweigt beharrlich. ,,Bitte, Sir, das ist wichtig. Leslie hatte schon einmal so einen Zusammenbruch und beim letzten Mal war sie im Koma und niemand wollte uns sagen, was los war.", sagt eine männliche Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und da steht Louis, der Leslie noch nie zuvor gesehen hat, aber wie gedruckt lügt. Für mich lügt. Dan sieht ihn an wie ein Auto, trotzdem legt Louis noch nach: ,,Wir machen uns doch einfach Sorgen, dass wir unsere beste Freundin verlieren, verstehen Sie, Sir?" Ich blicke fragend zu Louis und er zieht unbeeindruckt und, für Dan, der mittlerweile zwischen uns steht, unsichtbar eine Schulter hoch. ,,Tja also...", verlegen kratzt Dan sich am Hinterkopf, offensichtlich weiß er nicht genau, ob er uns nicht doch etwas erzählen soll. ,,Eure Freundin wird nicht ins Koma fallen, das is' unwahrscheinlich. Wie's aussieht hat sie über 'nen längeren Zeitraum zu wenig gegessen. Reicht euch das?", gibt er schließlich die gewünschten Informationen preis. ,,Absolut, Sir, vielen Dank.", gegenüber Dans verwaschener Sprache, klingt Louis' New Yorker Akzent beinahe so vornehm wie britisches Englisch. Dan geht weg und lässt Louis und mich alleine zurück. ,,Leslie lag also im Koma?", wende ich mich spöttisch an Louis und wackele mit den Augenbrauen. ,,Und du bist ihr bester Freund? Schön dich mal kennenzulernen, nachdem sie mir schon so viel über dich erzählt hat.", füge ich ironisch hinzu. Er zwinkert mir zu: ,,Gern geschehen. Immerhin weißt du jetzt, was mit ihr ist." Schlagartig werde ich ernst. Leslie hat zu wenig gegessen, obwohl sämtliche Ballettlehrer zu Hause in Kalifornien uns vor Essstörungen gewarnt haben. Wie konnte das nur passieren? ,,Lass uns nach nebenan gehen.", schlägt Louis vor. Nebenan ist ein spiegelverhangener Ballettsaal, der mit Jungen und Mädchen in unserem Alter und etwas älter gefüllt ist. Einige sind wie ich in Alltagsklamotten und warten auf die Ausrufung der Ergebnisse, andere haben noch ihr Kostüm an und ruhen sich vom Vortanzen aus, wie Louis, der sich einfach an Ort und Stelle auf den Boden fallen lässt und die, die noch dran sind, dehnen sich auf dem Boden oder an der Stange, die an der Wand befestigt ist oder gehen ihre Choreografie ein letztes Mal durch. ,,Ist ganz schön viel Druck.", stellt Louis fest. Er hat sich auf den Rücken gerollt und blinzelt durch halbgeschlossene Augenlider zu mir hoch. ,,Was?", frage ich irritiert und setze mich neben ihn. ,,Na ja, immer perfekt zu sein. Die besten Füße zu haben, die beste Figur, die beste Technik, die höchste Schmerzgrenze, das alles eben.", erklärt er. ,,Machst du dir nie Gedanken darüber?", will er wissen. Fragend sehe ich ihn an, während ich meine Schuhe von mir kicke. Bei dem Vortanzen gestern hat meine Blasen-Sammlung zwei neue Mitglieder bekommen und nun drücken die Schuhe. ,,Na, überlegst du nicht manchmal, zu erbrechen, weil du dich zu dick fühlst? Oder dehnst mehr, weil du denkst, dein Grand Bâttement sei nicht hoch genug?" ,,Natürlich. Wir Tänzer sind wahrscheinlich die selbstkritischen Menschen der Welt und alles. Aber unsere Ballettlehrer haben immer gesagt, dass wir auf keinen Fall erbrechen oder mit dem Essen aufhören sollen. Zig Mal haben sie davon gepredigt und Leslie hat dazu immer genickt. Bisher hat sie sich auch immer an die Regeln unserer Lehrer gehalten." ,,Da haben sie es wohl einmal zu wenig gepredigt.", murmelt er. ,,Na ja, es ist schwer der Versuchung zu widerstehen, wenn alle um uns herum besser sind als wir. Nicht, dass Leslie das nötig gehabt hätte, sie war schon immer gertenschlank und...", ich halte von mir selbst überrascht inne und frage mich, warum es mir so wichtig ist, Leslies Essverhalten zu verteidigen. Immerhin stehe ich was das Essen angeht eindeutig auf der Seite meiner Ballettlehrer: Keine Essen bedeutet keine Energie fürs Tanzen, die Gesamtleistung lässt nach, also ist eine gesunde Ernährung wichtig, aber alles was darüber hinausgeht, ist einfach nur krank.

Während sich der Raum leert, erzählen wir uns gegenseitig Geschichten aus unserem Leben, Louis redet von seinem Praktikum beim Tierarzt und ich habe endlich jemanden gefunden, der versteht, warum das Internat bei Adams Village mich so anödet und wir regen uns über Intrigen und das ewige Vergleichen der Tänzer untereinander auf. Jeder Tänzer und jede Tänzerin ist etwas besonderes, die Figur sollte hierbei keine Rolle spielen. Aber wir haben alle beide gut reden, wir sind sehr dünn, nur ist Louis viel muskulöser als ich, für uns ist es leicht gesagt, dass die Figur egal ist, andere empfinden das anders.  Wir reden auch von ganz alltäglichen Dingen, von Freunden, Familie und unfähigen Lehrern. Scherzhaft diskutieren wir, welcher Film besser ist: ,,Matrix" oder ,,Herr der Ringe" , wobei es bei dieser Frage, zumindest meiner Meinung nach, nur eine Antwort gibt. Eine Durchsage unterbricht uns, sie kommt aus einem der Lautsprecher, über die normalerweise die einzelnen Künstler bei Auftritten auf die Bühne gebeten werden und es heißt, dass alle Kandidaten des Youth America Grand Prix sich auf der Bühne versammeln sollen. Ich schnappe mir meine Schuhe und Louis und ich rennen Seite an Seite zum Bühneneingang zurück, wo sich schon etliche Tänzer tummeln. ,,Geh schon mal rauf. Ich quäl' noch kurz meine Füße in die Schuhe zurück.", rufe ich ihm über den jetzt schon aufbrandenden Applaus des Publikums hinweg zu. Trotz meiner Ansage wartet er, bis ich fertig bin. Nett von ihm. Ein eleganter Mann in einem Anzug, der, wenn mich nicht alles täuscht, vorhin in der Jury saß, beginnt eine scheinbar endlose Rede zu halten. Durch Leslies Zusammenbruch hat sich der gesamte Zeitplan etwas verzögert, es ist inzwischen sehr spät, schon fast ein Uhr in der Nacht und wir wollen alle möglichst schnell unsere Ergebnisse und dann ins Bett, aber der Mann im Anzug muss es ja unbedingt spannend machen. ,,Er ist eifersüchtig, dass ihn den ganzen Abend keiner beachtet hat, weil jeder zu uns geschaut hat.", flüstert Louis mir zu und auch, wenn diese Bemerkung nicht unbedingt witzig war, bin ich derartig angespannt, dass ich unkontrolliert loskichere und beim Versuch, das ganze als Hustenanfall zu tarnen, kläglich scheitere. Louis klopft mir grinsend auf den Rücken und dann beendet der Preisrichter seinen Vortrag und liest die Liste mit Tänzern vor, die es nicht geschafft haben. Manche können es mit einem Schulterzucken abtun, aber die meisten sind entgeistert und enttäuscht. Dann fällt mein Name und alles in mir erstarrt. Mir wird kalt. Das war es jetzt, ich kriege nicht mal die Chance, für einen Vertrag vorzutanzen. Verzweiflung durchströmt mich und ich möchte einfach nur weg. Wie durch einen Schleier nehme ich wahr, dass ich die Urkunde mit den Bewertungskriterien in die Hand gedrückt bekomme. Der Preirichter gratuliert mir und schüttelt mir die Hand. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass er das bei den anderen auch gemacht hat. Meine Augen stehen voller Tränen, die ich sogut es geht wegblinzele. Louis wird aufgerufen und kommt mit seiner Urkunde und einem breiten Grinsen im Gesicht auf mich zu. Wie kann er in dieser Situation noch grinsen? Er stupst mich mit dem Ellenbogen in die Seite: ,,Jetzt lach' doch mal. Wir haben es geschafft!", fordert er mich auf. Ich fange an zu wimmern: ,,Worüber soll ich lachen, wir haben... Warte, was?!", perplex starre ich ihn an. ,,Gewonnen?", wiederhole ich zaghaft. Jetzt ist es um meine Fassung geschehen und ich schmeiße mich in Louis Arme und schluchze los, dieses Mal aber vor Glück. Als ich mich von Louis löse, strahle auch ich über das ganze Gesicht und gleichzeitig strömen mir die Tränene über die Wange. Ich presse eine Hand auf meinen Mund, um wenigstens das Schluchzen zu unterdrücken, aber es bringt nicht viel. Immerhin habe ich noch keinen Schluckauf. Ich, Skye Mathew, stehe hier mit all den anderen Tänzern auf einer Bühne in New York City, weil wir es durch das Halbfinale geschafft haben und dafür zollt  das Publikum mit einem nie endenden Applaus Respekt. Und das fühlt sich großartig an.

Hinter GlasaugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt