Wer oder was bist du?

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War sie tot?

Offensichtlich nicht, denn Netas Umgebung kam ihr ziemlich real vor. Hölzerne Wände, duftende Kräuterbündel, die von der Decke hingen und Gerätschaften, deren Sinn und Zweck sie nicht kannte. Regale, deren Borde durchhingen von der Last verschiedenster Steine, Bücher und Pflanzen. Es roch frisch, aber nicht wie im Wald, eher so wie auf einer Wiese, Gras, Blumen, auch ein wenig nach Erde.
Doch seltsame Dinge gab es hier auch, unheimliche Dinge. Manche Bücherrücken hatten aufgemalte Augen, die, wie Neta hätte schwören können, ab und zu blinzelten. Die alten Bretter der Wände waren mit einer Neta unbekannten Schrift bedeckt, die sich sogar über ein paar Möbel zog. Sie bestand aus seltsam verschlungenen Runen, die zu wandern schienen, sich zu vermischen und Netas Augen einen Streich spielen zu wollen. Sie sah genauer hin und die Zeichen standen still. Wenn sie aber den Blick abwandte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel schlängelnde Bewegungen, die sofort aufhörten, wenn sie wieder darauf achtete. War sie doch tot? Nein, das konnte doch nicht sein, sie spürte ihren Körper (und leider auch die Schmerzen) überdeutlich, und außerdem lag sie selbst auf einem Bett im hinteren Teil der Hütte, wo es ziemlich dämmrig und staubig war. So stellte sie sich das Himmelreich nicht vor. Nur die Matratze war weich, eine Wohltat für ihren geschundenen Körper, wahrscheinlich sogar mit ein paar Ferdern gefüttert und das war auch schon alles überirdische.

Von draußen drangen gedämpfte Geräusche herein, Kinderlachen und die fröhlichen Sprüche von Erwachsenen, weiter entfernt auch das Muhen von Kühen und das Gackern der Hühner. Sie musste sich in einem Dorf befinden. Wie war sie hierher gekommen? Es war jetzt schon das zweite Mal in ziemlich kurzer Zeit, dass sie sich nicht daran erinnern konnte und das gefiel ihr überhaupt nicht. Das sollte besser nicht zur Gewohnheit werden, wenn ihr ihr Leben lieb war.

Auf einmal ging die Tür auf und eine gebeugte Gestalt kam herein. Als die Person aus den blendenden Strahlen in das Dämmerlicht der Hütte trat, erkannte Neta eine alte, tattrige Frau, mit schlohweißen, dünnen Haaren, einem faltigem Gesicht und steifen, zittrigen Händen.  Das einzige, was das klassische Bild einer erfahrenen Kräuterfrau, die schon etliche Jahre hinter sich hatte störte, war die Größe. Anstatt klein und hunzelig zu sein, war diese Frau selbst vom Alter gebeugt unglaublich groß, bestimmt zwei Fuß größer als Neta.

Das Kräuterweib schritt langsam zu einem schon ziemlich vollgestopften Regal und legte dort ein frisches Bündel Pflanzen ab, die silbrig schimmerten. Dann bemerkte es den Blick des Mädchens und kam erstaunlich schnell herüber zum Bett. Mit rauer, alter und spöttischer Stimme sagte es: "Ah, das Prinzesschen ist aufgewacht. Wollen wir doch mal sehen, wie es der Wunde geht. Dreh dich um! "

Aber Neta dacht nicht daran. Stattdessen setzte sie sich auf, verschränkte sie die Arme und forderte empört: " Erst einmal möchte ich wissen, wer du bist und wo ich bin. Und auch, wer mich hierher gebracht hat! Ich wache einfach hier auf, ohne irgendwelche Erinnerungen und weiß nicht, was du oder irgendjemand sonst mit mir vorhat! " Es war falsch, an der unschuldigen Frau ihre Wut herauszuschreien, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte sich angestaut, zusammen mit Hass und Verzweiflung, vermischt mit einem Hauch von Traurigkeit. Fast hätte sie einen Schlag gegen die Frau geführt, beherschte sich aber noch rechtzeitig und biss stattdessen ihre Unterlippe blutig. Fast wäre es wieder passiert, nach so vielen Jahren, fast hätten ihre Gefühle sie beherrscht und sie aller Vernunft und jeglichem Mitleid beraubt, sie zu einem skrupellosen Wesen gemacht. Sie schob die Frage beiseite, warum bloß schon eine einzige ironische Aussage sie so weit an den Abgrund brachten, was sie so weit getrieben hatte. Sie vergrub alles tief in ihrem Inneren und schloss es weg.

Die alte Frau aber schnaubte nur. Sie schien nichts bemerkt zu haben, nur ein kleines Funkeln in ihren Augen deutete darauf hin, dass sie gesehen hatte, was Neta innerlich zerriss. "Nun mach mal halblang. Weder ich noch sonst irgendjemand hat irgendwas mit dir angestellt, was du nicht wolltest. Du solltest dich eher bei Etron und mir bedanken, schließlich habe ich dich gepflegt und er dich gerettet und hierher gebracht."

Die BaumflüsterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt