Das Lichtband

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Die Gestalt entpuppte sich als ein kleiner, etwas ängstlich aussehender Junge, der unter den vielen hellblonden Stränen, die ihm ins Gesicht fielen, hektisch hin und her blickte. Sein Brustkorb hob und senkte sich unrhythmisch, als sei er eine längere Strecke gerannt und er umklammerte den Türrahmen wie ein rettendes Boot.

Dann erblickte er Neta, die, etwas geschockt, auf dem Bett saß. Seine Augen schienen aufzuleuchten und er rannte ohne Umschweife zu ihr, mit wedelnden Armen wie eine menschliche Mühle. Neta machte sich schon mal auf einen weiteren Kampf gefasst und spannte ihre Muskeln

an. Aber sie war nicht schnell genug, der kleine Junge stürzte sich auf sie und...

umarmte Neta. Überraschung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber nach ein paar Sekunden erwiederte sie, zögerlich, die Umarmung. Ein warmes Gefühl durchströmte sie, ein heilender, heller Strom. Obwohl ihr das Kind völlig unbekannt war, spürte sie eine leise Spur Geborgenheit. Dieses Vertrauen, diese kindliche Etwas, das in dieser Umarmung lag, berührte ihr Herz. Jetzt bemerkte sie auch die neugierigen Gesichter, die zur Tür hineinlugten. Neta blinzelte und lächelte dann verblüfft. Die Kinder sahen erst zu der Heilerin, die ebenfalls fassungslos dastand, aber es brauchte nicht lange, und auch sie überwanden sich, die Hütte zu betreten. Die süße Schar sammelte sich um Neta. Große Augen sahen sie staunend an. Einige flüsterten ihrem Nachbarn etwas zu, und schließlich trat ein Mädchen mit kurzen roten Zöpfen vor und sprach mit hoher Stimme: "Bist du das Mädchen, das mit den Ratvun gekämpft hat?"

Neta öffnete den Mund und meinte zögerlich: " Ich..ähm...ich glaube, ja. Und... wer seid ihr?"

Das höchstens fünf Jahre alte Mädchen drückte die Brust raus und behauptete stolz: "Ich bin Kata. Ich bin die Anführerin von uns. Ich wurde von allen hier gewählt, weil ich so gut rennen kann. Und wenn ich groß bin, möchte ich so kämpfen können wie du! Dann werde ich es diesen Viechern zeigen."

Neta gab einen verblüfften Laut von sich. Dieses kleine Mädchen wollte so werden, wie sie! Das konnte doch nicht sein...

Unterdessen hatte sich ein anderer Junge vor der Rothaarigen aufgestellt und funkelte diese böse an. "Aber das stimmt doch überhaupt nicht, Kata! Wenn es nicht so viele Mädchen geben würde, wäre ich schon längst Anführer, außerdem kann ich schneller rennen als du. Vater sagt..."

Das Mädchen unterbrach ihn prompt. "Aber warum bin ich dann vor dir im Ziel gewesen? Ich bin die Schnellste, und wenn du..."

Neta fand, das es an der Zeit war, den Streit zu beenden, bevor noch irgendetwas passierte. Schnell warf sie ein: "Hey! Könnt ihr mir nicht einfach sagen, was ihr hier überhaupt wollt?"

Nun wandten alle ihre Aufmerksamkeit wieder ihr zu. Das Mädchen erklärte mit wütenden Seitenblicken auf den Jungen: "Wir sollen dich holen. Totac hat gesagt, dass du vor den Dorfrat kommen sollst. Schließlich hast du unser Dorf gerettet!" Sie lachte bewundernd und zog dann an Netas Hand. Diese ließ sich von der übereifrigen Schar mitziehen, wobei sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Wieder griff jenes eigenartige, warme Gefühl nach ihr und brachte sie zum strahlen. Doch ein flüchtiger Blick zurück zeigte ihr das Bild der Heilerin, die mit besorgten Augen und einer leicht verzweifelten Haltung am nunmehr leeren Bett stand. Bevor sie irgendwelche Worte austauschen konnten, war Neta schon außer Sichtweite geschleppt worden. Inmitten der fröhlich plappernden Kinder vergaß sie schnell wieder, was sie gesehen hatte und ließ sich einfach tragen von dem Gelächter und den heiteren Gefühlen. Sie vergaß auch für diese kurze, fast perfekte Zeit, ihre anderen Sorgen, sogar ihre Vergangenheit. Von ihr aus hätte es ewig so bleiben können, aber nichts bleibt für immer. Vor einem länglichem, flachen Gebäude machte die Truppe halt. Schon fast düster ragte es vor ihnen auf, obwohl es gerademal ein Stockwerk maß. Ehrfürchtig bestaunte auch Neta die schlichten und sehr solid aussehenden Säulen am Eingang und das echte, den weiß-grauen Himmel spiegelnde Glas. Zwei Wächter mit hart funkelnden Speeren standen auf beiden Seiten der Tür, ebenso stramm und wie aus Stein gemeißelt wie die Säulen. Ein kalter Schauer überlief Neta, denn das ganze hier erinnerte sie zu sehr an die Festung der Assasinen in den blauen Bergen. Dort war es ebenso furchtbar kalt gewesen, und nicht nur von der Temperatur her...

Die BaumflüsterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt