In einem Brief

3.1K 147 7
                                    

Am 21. August hatten wir endlich wieder vier Stunden M5. Schwester Wilhelmine und Frau Sommer waren schon vor dem Gong anwesend.
Meine Gefühle schienen sich wieder etwas neutralisiert zu haben, mein Herz pochte nicht mehr Marathon. Vielleicht lag es lediglich daran, dass Frau Limes in der letzten Woche meine Karte unterschrieben hatte und dadurch wieder präsenter wurde. Bis auf Lina, die immer meine größte Liebe sein wird, wechselten die anderen Teachercrushes sich immer ein wenig ab. Je nachdem, wer zuletzt etwas Großartiges gesagt oder gemacht hatte, war am präsentesten. Meistens handelte es sich in diesem Fall jedoch um Herrn Baum. Ich setzte ihn immer gerne auf den zweiten Platz, obwohl es strenggenommen gar keinen zweiten Platz gab, schließlich war ich in Herrn Fröhlich und Frau Limes gleichermaßen verliebt und weder Herr Baum, noch die anderen beiden Verliebtheiten konnten ansatzweise das in mir auslösen, wozu Lina fähig war.

Kurz nach dem Gong setzte Schwester Wilhelmine sich an den Lehrertisch und Frau Sommer stellte sich nach vorne. Als ich da wieder ihre Schönheit in voller Pracht sehen konnte, fing mein Herz doch wieder an, etwas höher zu schlagen. Ich versuchte, dieses Gefühl zu verdrängen, doch so ganz gelang es mir nicht. Frau Sommer schlug vor, schon möglichst zeitnah unsere erste Lernortsverlagerung durchführen, da es im Herbst und im Winter zu kalt werden könnten und damit viele Möglichkeiten, wie zum Beispiel Kletterwald, gestrichen wären. Sie forderte uns dazu auf, Vorschläge zu machen und sammelte diese an der Tafel.
Als uns die Ideen ausgingen, schaute sie in meine Richtung und lächelte. "Was machen Sie mit mir?", fragte ich sie in Gedanken. Kurzzeitig hatte ich Angst, dass sie meine Gedanken lesen konnte, da sie mich kurz darauf nachdenklich ansah, aber dann erklärte es sich von selbst. Sie kam an unseren Tisch und fragte, ob wir gleich sprechen wollten. Ich nickte und wurde allmählich immer nervöser. Mia fragte: "Soll ich mitkommen?" Beide richteten fragende Blicke auf mich, ich muss knallrot geworden sein, und nickte sehr stark. Ohne Mia hätte ich vermutlich kein gescheites Wort herausbekommen.
Schnell kramte ich ein paar Texte aus meiner gymnasialen Vergangenheit heraus, die ich ihr eventuell geben wollte.
Frau Sommer zwinkerte mir noch einmal zu und meinte zur gesamten Klasse: "Machen Sie sich doch bitte schon Gedanken, welche Vorschläge Sie für sich bevorzugen. Ich gehe erstmal mit Ella und Mia in den Nebenraum. Wenn Sie Fragen haben, ist Schwester Wilhelmine ja da." Schwester Wilhelmine winkte und lachte. Auch sie war eine super Lehrerin. Generell waren alle Lehrer unserer Schule super. Warum konnten die Gymnasiallehrer nicht auch so toll sein? Okay, Herr Baum war es. Ebenso auch mein damaliger Chemielehrer und mein Französischlehrer der Mittelstufe. Aber die meisten waren schrecklich.

Mia und ich folgten Frau Sommer in den Nebenraum und setzten uns mit ihr an einen Tisch. Sie saß mir so gegenüber, dass wir uns geradeaus ins Gesicht schauen konnten. Mia saß zwischen uns. Frau Sommer sagte: "Ein bisschen hat Schwester Wilhelmine mir ja schon darüber erzählt. Sie waren vorher hier an der Schule, also auf dem Gymnasium, und haben ein Trauma erlitten, richtig?" Ich nickte und Frau Sommer sprach weiter: "Und dadurch haben Sie Sprechängste entwickelt." Ich schüttelte meinen Kopf. "Nicht?", fragte Frau Sommer ganz überrascht. Mia verbesserte sie: "Ella hat das mit dem Sprechen schon länger. Deswegen wurde sie ja gemobbt." Frau Sommer fragte: "Ist das eine Krankheit?" Ich nickte und wollte gerade etwas dazu sagen, doch Frau Sommer war schneller. "Ach so, dann lag ich ja vielleicht nicht ganz falsch mit meinen Vermutungen. Als Sie letzte Woche bei Schwester Wilhelmine aufgezeigt haben, habe ich schon gedacht, Sie hätten eine Kehlkopfentzündung oder so und als Schwester Wilhelmine gesagt hat, dass Sie immer so leise reden, habe ich an eine Erkrankung der Stimmbänder gedacht, aber Schwester Wilhelmine meinte, dass das durch das Trauma entstanden ist..." Ich schüttelte erneut meinen Kopf, wurde extrem nervös und rot im Gesicht und erklärte: "Es ist schon psychisch, keine körperliche Erkrankung. Ich kann zu Hause ganz normal laut sprechen, woanders habe ich unerklärliche Ängste. Früher war das selektiver Mutismus, mittlerweile irgendeine andere Angststörung. Angst vor dem Sprechen hatte ich also immer schon, aber am Gymnasium sind die Ängste stärker geworden und haben sich auf andere Bereiche ausgeweitet." Nun verstand Frau Sommer das Problem. "Ah, deswegen sprechen Sie also leise und Sie werden auch an unserer Schule leise sprechen?" Ich nickte. Mia meinte: "Naja, ein bisschen lauter als hier ist sie da wohl. Aber da fühlt sie sich halt auch sicherer." Ich lächelte und freute mich darüber, dass es Mia auffiel. Frau Sommer erwiderte mein Lächeln und plötzlich spürte ich mein Herz wieder schneller schlagen. Ein Kribbeln durchfuhr meinen ganzen Körper und ich hatte Angst, dass Mia oder schlimmstenfalls auch Frau Sommer es bemerkten. Dies war anscheinend jedoch nicht der Fall.
Frau Sommer meinte: "Und demnächst wollen Sie dann mit Schwester Wilhelmine eine Traumabewältigungstherapie machen. Können Sie mir dazu bitte noch etwas mehr erläutern?" Ich war noch viel zu verwirrt, um irgendetwas beantworten zu können, deshalb übernahm Mia diesen Part für mich: "Also Ellas Therapeutin hat da so einen Plan mit zehn Stufen erstellt, den Ella nach und nach erarbeiten soll. Stufe 1 ist es, dass sie sich halt mit Schwester Wilhelmine auf den Flur stellt und da eine Minute oder so stehen bleibt und dann wird es halt immer mehr und in der letzten Stufe kann sie dann normal hier durchs Gebäude laufen." Ich nickte ihr dankbar zu und Frau Sommer machte sich Notizen. Sie war so süß, wenn sie sich Notizen machte und sie war die einzige Lehrerin, die sich je zu solchen Gesprächen Notizen gemacht hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie noch so neu im Beruf war, aber ich konnte mir auch vorstellen, dass sie sich wirklich für uns Schüler interessierte. Schließlich war das auch das Konzept unserer Schule - "dem Menschen zugewandt".
"Ich finde, dass auch die Klasse darüber informiert werden sollte, damit keine Vorurteile entstehen", meinte Frau Sommer, "Das könnte ich übernehmen, aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie das selbst mitteilen, Ella." Ich war etwas perplex, schließlich hatte ich so etwas noch nie gemacht. In der Hauswirtschaftsklasse hatte meine Klassenlehrerin das übernommen und in der FOS wurde meine Krankheit gar nicht erwähnt. Dennoch fand ich Frau Sommers Idee ganz gut. Auch Mia stimmte ihr zu: "Ich finde auch, dass du das am besten machen kannst, weil das so viel persönlicher ist und du kennst dich am besten damit aus. Dann entstehen nicht zu schnell Missverständnisse." Frau Sommer nickte und meinte: "Ja, genau. Mia hat recht." Mia fügte noch hinzu: "Aber ich will dich gerne dabei unterstützen." Ich lächelte und konnte noch gar nichts darauf sagen, da fragte Frau Sommer auch schon, ob ich mir das zutrauen würde. Ich nickte. "Haben Sie eine Idee, wie Sie das machen könnten?" Ich schaute Mia hilflos an und diese meinte: "Vielleicht mit einer PowerPoint Präsentation. Also dass du die Folien und Karteikarten machst und ich stelle das vor und du beantwortest dann die Fragen?" Ich nickte ihr zu und schaute Frau Sommer an. Diese schien nicht so begeistert von der Idee gewesen zu sein. "Hm, ja, so könnten Sie das auch machen", sagte sie und runzelte ihre Stirn, "aber ich hätte eher an einen Brief gedacht. Dass Sie zu Hause einen Brief an Ihre Klasse schreiben und diesen dann hier im Unterricht vorlesen... oder von Mia vorlesen lassen. Das wäre viel weniger Aufwand und meiner Meinung nach auch persönlicher als eine fachliche Präsentation über die Erkrankung." Mia und ich stimmten ihr zu. "Wollen Sie das so machen?", fragte Frau Sommer mich noch einmal. Ich nickte und flüsterte ein leises, aber begeistertes "Ja". "Okay. Sie dürfen den Brief auch gerne vorher bei mir einreichen, wenn Sie sich sicherer fühlen, wenn ich den schon einmal durchgelesen habe. Dann kann ich Ihnen eventuell noch Veränderungen vorschlagen. Falls das überhaupt nötig ist. Ich habe gehört, dass Sie schriftlich sehr stark sind. Möchten Sie mir sonst noch etwas sagen?", fragte sie und schaute mich dabei so niedlich an, dass mir beinahe die Tränen kamen. Völlig verwirrt stammelte ich: "Ähm... ja. Also nein, sagen nicht... Aber, äh,... Ich habe noch alte Texte... von damals... und... äh, die... die dürfen Sie gerne lesen... Wenn Sie das möchten..." Frau Sommer lächelte noch immer so niedlich und ihr Blick war voller Verständnis. Wenn sie nur wüsste, dass sie gerade der Grund war, weshalb ich so nervös war... "Klar, die lese ich gerne. Darf ich die mitnehmen?" Ich gab ihr die drei gefalteten Blätter und nickte. "Und darin steht noch mehr über Ihr Trauma?", fragte sie. Ich antwortete: "Ja. Also nicht direkt, aber da steht, was damals in mir vorging." Frau Sommer nahm die Zettel, steckte sie in ihr süßes rosafarbenes Notizbuch und klappte es zu. Mit den Worten "Danke für Ihr Vertrauen" gingen wir zurück in den Unterrichtsraum, wo Schwester Wilhelmine bereits ein paar Vorschläge für die Lernortsverlagerung von der Tafel gestrichen hatte. Frau Sommer schaute auf das neue Tafelbild und fragte sichtlich enttäuscht: "Kletterwald fällt also raus?" Jennifer rief: "Ja, weil Lara und ich Höhenangst haben und wir wollen gerne was machen, woran alle teilnehmen können, wir wollen uns ja alle kennenlernen." Frau Sommer zog ihre Schultern hoch, schaute traurig und meinte: "Schade. Ich wollte immer schon mal klettern. Aber Sie haben natürlich recht." Ihre Art war so süß wie Zucker. Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen und ihr versprochen, dass ich gerne mit ihr klettern fahren wollte. Aber leider konnte ich das nicht machen. Schließlich war sie meine Lehrerin.
Was genau sah ich bloß in ihr? Ich wusste in dem Moment gar nicht mehr, was ich fühlte. Verliebtheit war nicht der richtige Begriff, aber falsch war es auch nicht so ganz. War es eine anfängliche Schwärmerei? Oder war sie mir doch nur sehr sympathisch? Ich wusste es nicht. Das einzige, was ich wusste, war in diesem Moment, dass mein Wunsch, meine Freizeit mit ihr zu verbringen, nicht berechtigt war. Ganz egal, was für ein Gefühl dahinter steckte. So sehr ich es auch wollte, es wäre ohnehin verboten gewesen und da brachte auch meine Volljährigkeit nichts. Und das tat ziemlich weh.

Zu Hause setzte ich mich direkt an den Schreibtisch und begann, einen Brief an meine Klassenkameraden zu schreiben. Diesen wollte ich schon am nächsten Tag bei Frau Sommer abgegeben, damit sie den Eindruck von mir hätte, ich wäre eine engagierte Schülerin. Was war nur mit mir los? Ich wollte diese Lehrerin nicht nur beeindrucken, ich musste es. Irgendetwas in mir spielte völlig verrückt. Wie gerne wäre ich einfach bei ihr gewesen, bei Frau Sommer, und hätte diesen Brief mit ihr gemeinsam verfasst.

Nur wegen IhnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt