Sommerhimmelblau

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In den ersten beiden Stunden hatten wir Unterricht bei Schwester Wilhelmine. Wir sprachen über die UN-Kinderrechtskonvention. Als wir in Gruppen eingeteilt wurden, um weitere relevante Paragraphen zu erarbeiten, bat die Beratungslehrerin mich vor die Tür. Leicht verwirrt und etwas aufgeregt folgte ich ihr.
"Sie wissen schon, was ich mit Ihnen besprechen möchte, oder?", fragte sie. Ich schüttelte leicht meinen Kopf und war noch verwirrter. Schwester Wilhelmine lachte und klärte mich auf: "Wir hatten ja mal darüber gesprochen, beziehungsweise haben Sie mit Ihrer Therapeutin besprochen, dass eine Traumabewältigungstherapie im Gymnasium angebracht wäre. Ich wollte Ihnen diesbezüglich nur sagen, dass wir am nächsten Montag eventuell schon damit starten können, weil Frau Sommer ja endlich wieder gesund ist. Allerdings müssten Sie das vorher mit ihr besprechen und sie darüber aufklären. Ich könnte es zwar auch machen, aber ich schätze, dass Sie das als Betroffene besser erklären können und alles weiß ich auch nicht." Mein Herz raste seit Schwester Wilhelmine Frau Sommers Namen nannte. Ich spürte, wie sich in mir alles zusammenzog und doch war es ein tolles Gefühl. Mein Gesicht wurde ganz heiß und ich muss ausgesehen haben wie eine überreife Tomate. Dennoch versuchte ich, der Beratungslehrerin gegenüber souverän zu bleiben und antwortete: "Ja, ich werde sie nachher gemeinsam mit Mia ansprechen. Das hatten wir aufgrund meiner Problematik mit der Sprechangst sowieso schon vorgehabt und dann wird sie bestimmt auch nach den Hintergründen fragen." Schwester Wilhelmine nickte bestätigend und meinte: "Ich finde es sehr schön, dass Mia Sie in der Sache so sehr unterstützt, dass Sie sich gefunden haben und eine so gute Freundschaft zueinander aufgebaut haben." Ich lächelte, war mit meinen Gedanken aber schon längst wieder bei Frau Sommer. So gingen wir zurück in die Klasse und ich erzählte Mia kurz, was wir besprochen hatten.

Die dritte und vierte Stunde könnten mir gar nicht schnell genug vergehen. Der Unterrichtsinhalt war zwar wirklich interessant, aber mein Herz schrie förmlich nach Frau Sommer. Ich versuchte es so sehr, mich irgendwie auf den Unterricht zu konzentrieren, schaute im Endeffekt jedoch alle fünf Minuten auf die Uhr, wenn Frau Sommer mir plötzlich doch wieder in den Kopf kam.

In der Pause gingen Mia und ich nach unten. In der Cafeteria gab es selbstgemachte Pizzabrötchen. Ich mochte die immer sehr gerne, kaufte mir aber dennoch keins, weil ich wusste, dass ich vor Aufregung gar nichts essen konnte. Ich hätte mich bloß daran verschluckt. Mia fiel auf, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Sie schaute mich ständig fragend an und ich schenkte ihr jedes Mal mein größtes Lächeln, denn das war genau das, was ich empfand: Tiefste Freude, Frau Sommer in wenigen Minuten sehen zu können.
Letzte Woche hatten wir noch Vertretung bei Frau Klein. Sie hatte uns die Einteilung unserer Praxisgruppen vorgelesen. Ich war in Frau Sommers Gruppe. Erst war ich traurig, weil ich Frau Klein zum einen schon aus der FOS kannte und sie wirklich nett war und zum anderen, weil Mia auch in ihrer Gruppe war. Aber seit gestern war ich total glücklich darüber, in Frau Sommers Gruppe zu sein, denn das bedeutete, dass Frau Sommer mich im Kindergarten besuchen würde, dass sie meine Prüfungen abnimmt und dass sie meine Ansprechpartnerin für den praktischen Teil der Ausbildung wurde.

Endlich ertönte der Gong und ich zog Mia regelrecht zurück zum Klassenraum. Auf der Treppe stolperten wir fast. "Mensch Ella, warum hast du es heute so eilig? Du bist doch sonst immer die Trödeltrine", stöhnte Mia. Ich lachte bloß und zog sie weiter. Ich hätte ja unmöglich sagen können, dass ich Frau Sommer vom Anfang bis zum Ende, ohne Verlust einer halben Minute, sehen wollte.
Schon saß ich auf meinem Platz in der ersten Reihe und starrte erwartungsvoll zur Tür, die sich kurz darauf öffnete. Mein Herz wollte sich gerade überschlagen, doch es waren nur ein paar Klassenkameraden, die noch aus der Pause kamen.
Nach fünf Minuten wurde ich allmählich so unruhig, dass ich kaum mehr sitzen konnte, da kam sie endlich zur Tür herein, total abgekämpft. Sie sah unglaublich niedlich aus mit ihren leicht zerzausten Haaren und den roten Wangen. "Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, ich hatte gerade noch Unterricht im Gymnasium und kann leider nicht rüberfliegen." Allgemeines Gemurmel ging durch die Klasse. Aus jeder Ecke hörte man: "Nicht schlimm" oder "Alles gut" oder "Machen Sie sich keinen Kopf". Frau Sommer lächelte. Sie sah so bezaubernd aus, wenn sie lächelte. Es bildeten sich kleine Grübchen in ihrem Gesicht, die diese wunderschöne Frau auch noch unglaublich niedlich aussehen ließen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie schon 40 Jahre alt war. Sie sah so viel jünger aus.

Sie stellte ihre große schwarze Trolleytasche auf den Lehrertisch und holte sowohl ihren großen gelben Kalender als auch ein rosafarbenes DIN A5 Notizbuch heraus, setzte sich auf den Tisch und bat uns darum, Namensschilder aufzustellen und uns noch einmal kurz vorzustellen. Die Vorstellrunde, die Frau Sommer als letzte Person beendete, dauerte bis zum Ende der fünften Stunde. In der sechsten Stunde erklärte sie uns ein paar organisatorische Dinge zum praktischen Teil der Ausbildung, sagte, dass an den nächsten zwei bis drei Dienstagen auch Frau Klein dazu käme, um die Formen der Ausarbeitungen im Plenum zu besprechen und danach hätten die beiden Praxisgruppen getrennt voneinander Unterricht. Sie teilte Einladungen an unsere Praxismentoren aus, die dieselben Informationen an einem Infoabend erfahren könnten und teilte uns mit, dass wir pro Halbjahr eine Lernortsverlagerung durchführen könnten.
Ich versuchte, ihr einfach nur zuzuhören und alle Informationen ganz normal aufzunehmen, ohne sie dabei wie ein Stalker genau zu scannen. Doch es fiel mir unglaublich schwer, hin und wieder meinen Blick von ihr abzuwenden. Sie bewegte sich so elegant, wenn sie sich vorne auf den Tisch setzte, wenn sie Zettel verteilte, wenn sie sich Notizen machte und wenn sie ihre Stirn runzelte, sah sie so süß aus, dass man meinen könnte, sie wäre ein Püppchen. Ihre langen blonden Haaren fielen ihr immer wieder ins Gesicht, sobald sie sich vorbeugte, bis sie die vorderen Strähnen hinter ihre Ohren strich. Ich hätte sie am liebsten gefilmt, bei allem, was sie tat. Eigentlich tat sie nichts Ungewöhnliches. Sie machte die Dinge, die Lehrer nun mal tun, aber doch war es in meinen Augen etwas ganz Besonderes.

Die zwei Stunden vergingen viel zu schnell. Um 13 Uhr gongte es schon wieder. Ich hätte den Schulgong am liebsten manipuliert, damit sie noch länger geblieben wäre, aber leider reichten meine Elektronikkenntnisse für so etwas nicht aus, zumal ich das sowieso nicht gedurft hätte.
Ich war so in ihrer Schönheit vertieft, dass ich ganz vergaß, dass Mia und ich noch mit ihr sprechen wollten. Ich saß einfach nur da und beobachtete sie dabei, wie sie ihren Kalender und ihr Notizbuch wieder in ihre Tasche packte, als Mia mir in den Oberarm kniff. "Wollen wir ihr das jetzt sagen oder nicht?", fragte sie. Ich muss sie wohl echt verdutzten angesehen haben, denn sie nickte mit ihrem Kopf in Frau Sommers Richtung und ergänzte: "Dein ewiges Schweigen und so..." Da wusste ich sofort, worauf sie hinaus wollte und sprang regelrecht von meinen Stuhl auf. Mia schüttelte ihren Kopf und murmelte: "Du bist heute aber auch wieder extrem verpeilt." Ich grinste schief, zu etwas anderem war ich vor lauter Bauchkribbeln nicht mehr in der Lage.

Mia ging direkt auf Frau Sommer los, als wäre es das einfachste der Welt. Ich dagegen ging mit Bedacht, um bloß nicht zu stolpern. Mir war, als hätte ich drei Gläser Sekt hintereinander auf ex getrunken, ein warmes und wohliges Gefühl, aber Schwindel und Herzrasen.
"Frau Sommer?", fragte Mia. Die wunderschöne Frau schaute auf und fragte lächelnd: "Ja?" Mia zeigte auf mich und meinte: "Ella muss ihnen etwas sagen." Da richtete sie ihren Blick auf mich, noch immer mit diesem bezaubernden Lächeln. Ich taumelte zum Lehrertisch und stellte mich ganz dicht neben Mia. "Was gibt es?", fragte Frau Sommer mit Ihrer niedlichen Engelsstimme. Dabei schaute sie mir tief in die Augen. Ich erwiderte diesen Blick und mir wurde wackelig auf den Beinen, als ich ihre Augenfarbe aus der Nähe genau erkennen konnte. Ihre Augen waren richtig sommerhimmelblau. Ich verlor mich ganz und gar in ihr und stammelte: "Ähm... ja... weil, ähm, da im Gymnasium,... also ich war vorher da auf der Schule und... äh... jetzt habe ich da immer Angst." Mia bemerkte meine Hilflosigkeit zum Glück und ergänzte: "Ella wurde da ganz schlimm gemobbt und hat deswegen immer noch Angstzustände und sie redet halt deswegen auch immer nur ganz wenig und ganz leise." Frau Sommer schaute mich noch immer an, auch da, als Mia mit ihr sprach. Ihr Blick war verständnisvoll und hoffnungsvoll. Es erwärmte mir das Herz. Sie sagte: "Ein bisschen hat Schwester Wilhelmine mir schon darüber erzählt, aber ich finde es sehr gut, dass Sie mich auch noch einmal angesprochen haben. Jetzt ist ja leider die sechste Stunde vorbei, aber ich würde vorschlagen, dass wir uns am kommenden Montag noch einmal zusammensetzen und unter vier Augen, oder wenn Mia mitkommen soll, zu dritt noch einmal darüber sprechen. Ist das für Sie in Ordnung?" Ich nickte und starrte wie in Trance in ihre wunderschönen Augen. Mia sagte: "Jo, passt." Frau Sommer kicherte über Mias Anmerkung, zwinkerte mir zu, verabschiedete sich und verließ unseren Klassenraum. Ich schaute ihr hinterher bis sie nicht mehr zu sehen war.

"Ich habe mega Hunger", klagte Mia, "Wollen wir zum Edeka laufen?" Ich war sofort einverstanden, denn mittlerweile verspürte auch ich wieder Hunger. Doch mein Grinsen blieb noch die ganze Zeit, selbst als ich abends zur Orchesterprobe fuhr, grinste ich noch immer, weil ich Frau Sommer so nah sein durfte und weil sie so lieb und wunderschön war. Bis zum nächsten Montag konnte ich es kaum abwarten. Dann fand tatsächlich ein Gespräch zwischen ihr, Mia und mir alleine statt, somit konnten Mia und ich ihr für die Zeit näher sein als all die anderen aus unserer Klasse und dieser Gedanke machte mich irgendwie total glücklich, sogar euphorisch.

Nur wegen IhnenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt