-1- Ein Prozess | Coming Out

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Jeder von uns hat in seiner Kindheit und Jugend schon einmal mehr oder weniger Kontakt mit dem Thema Homosexualität gehabt. Ob das nun nur am Rande, vielleicht über die Nachrichten, oder durch einen Verwandten, Bekannten, Gerüchte oder was auch immer geschah. Schon weitaus weniger Menschen hören von Transexuellen, Bisexuellen, Pansexuellen etc - geschweige denn, dass man groß über die Bedeutung all dieser Worte aufgeklärt wird.

Man wächst also in den meisten Fällen mit dem Wissen auf, dass es Menschen gibt, die anders sind, als das was als Norm gilt. Anders als das, was die Eltern von einem erwarten. Vielleicht schnappt man hier und da auch noch einen negativen Unterton bei dem Thema auf und zack, Vorurteile vorprogrammiert.

Mit Vorurteilen ist natürlich nicht gemeint, dass man einen Hass dagegen entwickelt, im Gegenteil. Doch mit der Zeit verinnerlicht man die gesellschaftlichen Ideale, es passiert völlig unbewusst. So kommt es, dass man direkt ein komisches Gefühl im Bauch hat, wenn das Thema auf den Tisch kommt und der erste Gedanke ist, diese Menschen sind anders. Sie werden direkt abgestempelt und in eine Schublade gesteckt. Die meisten wissen zwar garnicht viel über Homosexualität, aber das reicht doch, um zu urteilen, richtig? Warum sollte man sich auch mehr damit auseinandersetzen, wenn man so gut wie nie mit dem Thema konfrontiert wird? Man wächst auf und sieht, dass sich in Filmen und Serien, Musik und Kunst, alles nur um Mann und Frau dreht. Man hat genau dieses Bild vor Augen, wenn man sein Leben plant. Man will dazu gehören, genauso sein wie alle und verschwendet keinen weiteren Gedanken daran, dass die Repräsentation sehr einseitig und nicht unbedingt wahrheitsgemäß ist, denn man kennt es nicht anders.

Das geht soweit, dass man irgendwann automatisch bei jeder Person der man begegnet davon ausgeht, dass sie heterosexuell ist. Auch bei sich selbst. Das nennt sich "Heteronormativität". Und genau dieser Zustand ist es, der es uns so schwer macht, zu verstehen, was wir da fühlen. Was das überhaupt für Gedanken sind, die uns da durch den Kopf gehen. Denn obwohl uns klar ist, dass es neben Heterosexualität noch andere Wege gibt, sich zu identifizieren, kommen wir nicht darauf. Man zieht es garnicht erst in Erwägung - warum auch? Denkt nicht jedes Kind von sich selbst es sei 'normal'?

Ich persönlich habe mit 15 oder 16 damit angefangen mir darüber Gedanken zu machen und ich glaube, wenn man erst einmal seine Sexualität in Frage stellt, passiert es schnell, dass man auch alles andere anzweifelt. Man fragt sich wie man jahrelang selbst nichts davon wissen konnte. Warum man es nicht gemerkt hat. Es ist angsteinflößend und es stellt für einen gewissermaßen die ganze Welt auf den Kopf. Nichts ist mehr, wie es einmal war und es fällt schwer sich zurückzulehnen und alles mit etwas Abstand zu betrachten, anstatt in Panik zu verfallen. Dank unseres liebgewonnenen Freundes - der Heteronormativität - lösen all diese Gedanken ein ungutes Gefühl in uns aus. Dazu kommt, dass man uns in unserem Leben eher mangelnd (bis garnicht) über diesen Fall aufgeklärt hat, weshalb wir uns zurecht erst einmal überfordert fühlen. Außerdem, woher soll man wissen ob die eigene Vermutung stimmt? Es gibt so vieles, dass auf einmal mit Fragezeichen gekennzeichnet ist und man hat das Gefühl, sich selbst nicht mehr zu kennen. Ich meine, man bekommt weder den sprechenden Hut aus Harry Potter aufgesetzt, der für einen entscheidet, noch erhält man in irgendeiner anderen Form Bestätigung. Keiner der gegoogelten Selbst-Tests kann helfen und auch die bekannten Stereotypen sind nicht immer zutreffend. Die einzige Person, die deine Gefühle kennt, bist schließlich nur du und aufeinmal musst du über etwas entscheiden, mit dem du dich selbst kaum auskennst. Du musst entscheiden, ob deine Vermutung zutrifft. Dabei ist mit Entscheidungen nicht gemeint, dass wir eine Wahl hätten was unsere Sexualität angeht, denn wir haben es uns ja nicht ausgesucht. Außerdem, wenn sich jeder am Anfang entscheiden sollte, ob er ein Leben lang als anders wahrgenommen werden will, dann sähe die Entscheidung immer gleich aus. Nein. Aber wir nennen es mal weiterhin eine Entscheidung, denn worüber man durchaus entscheidet, ist die Frage: will ich mich mein Leben lang verstecken und mich dafür schämen wer ich bin, oder mache ich den Schritt und erzähle es. Mache ich diesen riesigen Schritt - nicht für meine Freunde, nicht für meine Eltern, sondern für mich selbst - weil ich nicht will, dass mein Leben verstreicht und ich nicht glücklich bin, nicht ich selbst bin. Es ist eine schwere Entscheidung, so vieles kann passieren und man hat keine Kontrolle über die Reaktionen.

Verwirrend ist dieser Prozess besonders, weil es bizarr wirkt eine Entscheidung über die eigene Sexualität fällen zu müssen. Ich meine, wann haben Heterosexuelle jemals ihre Sexualität in Frage gestellt? Genau, das haben sie nie! Denn Sexualität ist etwas angeborenes, an dem man normalerweise nicht zweifeln würde. Zumindest nicht, wenn man nicht sein ganzes Leben in eine Box gesteckt worden wäre. Eine Box, die leider nicht jedem passt und sobald man aus ihr heraus wächst, steht man dort. Nackt. Man schaut sich um und sieht all diese Menschen die perfekt in ihre Box passen und beginnt sich für etwas zu schämen, das man sich nie ausgesucht hat. Man kommt sich einsam vor und weiß nicht recht, wie es weitergehen soll. Sucht man sich eine neue, passende Box? Verzichtet man darauf? All diese Fragen lassen einen zunehmend zweifeln und anstatt die Gefühle hinnehmen zu können, ist man sich bewusst, dass nicht jeder einen akzeptieren wird.

Klar, die Meinung anderer sollte nicht zählen, aber so eine Selbstsicherheit zu besitzen, ist ein langer Weg. Besonders wenn deine gerade zu Staub zerfallen ist, als du mit Schrecken wahrgenommen hast, dass deine Box dir nicht länger passt. Also versteckt man sein wahres Ich. Man tut das vielleicht aus Angst davor verletzt oder verlassen zu werden. Als Schutz vor wütenden Reaktionen. Man tut es so lange, mit solch einer Routine, dass es einem letztendlich vorkommt, als wäre es tatsächlich ein schmutziges Geheimnis, das man dort hütet. Als hätte man recht damit sich zu schämen.

Damit kommen wir auch schon wieder zurück zu der wundervollen Heteronormativität, denn diese ist der Grund dafür, das wir diesen Scham empfinden und so viele Jahre stumm im Schrank verbringen. Gälte es nicht als normal heterosexuell zu sein, gäbe es keine Erwartungshaltung an uns, die wiederum den Scham hervorruft, sobald wir ihr widersprechen. Ebenso müsste sich niemand outen, wenn es kein richtig und falsch gäbe. Aufeinmal würde das Outing dann so lächerlich klingen, wie das Geständnis hetero zu sein.
Wäre es nicht schön, ohne Labels aufzuwachsen zu können und nicht von Geburt an eine Identität aufgedrückt zu bekommen? Niemand würde den Drang verspüren, in irgendeine Box zu passen oder an Selbstzweifeln leiden, weil man sich nicht mit den Dingen identifizieren kann, die als normal gelten.

Aber das ist bis heute natürlich reines Wunschdenken, also mal zurück zum Thema;
ich war also 16 als ich begonnen habe über meine Sexualität nachzudenken. Ich fing an mehr und mehr mit Leuten zu schreiben, die sich als ein Teil der LGBT+* community identifizierten, online ist es meist gar nicht allzu schwer Anschluss zu finden.

*(lesbian, gay, bi, transgender,+)

Schnell fingen ich und ein paar online Freunde an, uns im Spaß als 'confused' (zu dt. verwirrt) zu identifizieren und wir benannten es in LGBTC um. Der Humor ging mir mit der Zeit jedoch zusehends verloren, als ich mir mehr und mehr Gedanken darüber machte. Während ein kleiner Teil meiner Freunde das ganze innerhalb von Monaten überwand und danach ganz normal weitermachte, konnte ich nicht anders, als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was das für mich bedeuten würde. Ob es mein Leben einschränkt, ob ich Freunde verliere, wie ich es meinen Eltern sage, ob es unser Verhältnis verändert, und und und. Bis zu meinem ersten Coming Out hat es zwei Jahre gebraucht. So oft habe ich mir gewünscht, ich hätte zu dem Teil meiner Freunde gehört, die locker flockig sagen konnten "hey, das ist nunmal wer ich bin, da gibt es nichts zu diskutieren". Doch obwohl ich nie etwas gegen Homosexualität hatte, genau so wenig wie meine Eltern, bereitete es mir riesige Schwierigkeiten mich selbst zu akzeptieren. Ich verlor an Selbstwertgefühl, begann mich von meinen Freunden zurückzuziehen und habe dem ganzen viel mehr Wert beigemessen, als es haben sollte. Wenn sich die eigenen Gedanken um nichts anderes mehr drehen, als dieses eine Problem, dann scheint es auf einmal übernatürlich groß zu sein. Es ist das einzige woran man denken kann, Schule, Studium, Arbeit, Freunde, Familie, all das rückt in den Hintergrund. Natürlich war mir die ganze Zeit über klar, dass ich, sollte sich jemand bei mir outen, jeder Person erzählen würde, dass das rein garnichts ändert. Umso frustrierender war es, dass ich das nicht in meinen eigenen Kopf bekommen konnte.

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Soviel erstmal zu mir. Kommentiert doch mal in welchem Alter ihr langsam angefangen habt, über eure Sexualität nachzudenken und wie lange ihr bis zu eurem ersten Coming Out gebraucht habt.

Ihr könnt mich natürlich auch jederzeit direkt anschreiben, ob ihr nun eure eigenen Coming Out Stories (anonym) teilen möchtet oder euch einfach mal etwas von der Seele reden müsst, hier findet ihr ein offenes Ohr 💌

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