4. Goldenes Blut

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Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er gegangen war, doch als ich es schließlich tat, lief ich sofort zu der Frau, die regungslos am Boden lag. In der Hoffnung, er habe sie nicht allzu schwer verletzt, reichte ich ihr meine Hand. Da sie sie nicht gleich ergriff, fraß sich die Angst immer tiefer in mich hinein fraß. War sie bewusstlos? Was hatte man ihr bloß angetan? Mein Herz klopfte wild, als ich sie leicht an stupste.

Ein paar Sekunden lang passierte nichts, aber als ihre Hand dann doch zaghaft die meine umschloss, war ich umso erleichterter. Ohne Wiederspruch ließ sie sich von mir hochziehen.

"Diese verfluchten Mistkerle", fluchte ich, während mein Blick über die zierliche Frau glitt, die nun aufrecht vor mir stand. Ihre dünnen Arme hingen schlapp an ihrer Seite, den Kopf hielt sie lustlos gesenkt. Blutige Schnittwunden zierten jeden Zentimeter ihrer, einst so makellose Haut. Auch blaue Flecken zogen sich über ihren ganzen Körper.

Bei diesem Anblick stieg Hass in mir hoch. Hass auf all diejenigen, die ihr das angetan hatten. Hass auf die gesamte Menschheit. Am liebsten würde ich diese abscheulichen Wesen mit bloßen Händen töten! Leider war ich, so lange ich hier festsaß, komplett machtlos.

Trotz diesen Gedanken machte ich mich ans Lösen des Seils, das fest um ihre Handgelenke geknotet worden war. Dabei ging ich besonders behutsam vor da ich vermutete, dass die Haut darunter komplett aufgerieben und wund war. Obwohl ich wusste, was mich erwarteten würde, schnappte ich beim Anblick dieser Verletzungen ungläubig nach Luft.

Die Haut war unter dem Seil war nur noch ein einziger, blutiger Fetzen. Teilweise klebte das Seil sogar in der offenen Wunde. Es war zwar nicht lebensbedrohlich, aber dafür äußert schmerzhaft, weshalb ich sofort damit begann, das Seil so vorsichtig wie möglich von der verletzten Haut löste. Obwohl sie bei dieser Prozedur Höllenqualen erlitt, ließ sie sich fast nicht anmerken. Sie biss sich lediglich auf die Unterlippe bis diese blutete.

Als das Seil nach einigen schmerzvollen Sekunden auf dem Boden aufschlug, murmelte sie ein undeutliches "Danke" und schenkte mir ein schwaches, aber aufrichtiges Lächeln, bei dem eine Reihe perfekt weißer Zähne entblößt wurden. "Ich bin Naomi." Sie rieb an ihren verletzten Gelenken, um so das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen.

"Dhiren", nannte ich ihr ebenfalls meinen Namen, "Aber Ren ist einfacher zu merken." Ich zuckte mit den Schultern. "Wie du mich schlussendlich nennst, bleibt dir überlassen." Diese Frau hatte etwas Besonderes an sich. Etwas das uns verband. Etwas, das zuließ, dass ich ihr sofort vertraute. Sie war wie ich - das fühlte ich genau!

Mein Blick wanderte von ihren aufgeriebenen Händen zu ihren schön geschwungenen Lippen, deren Zartrosa an einer Stelle durch ein hässliches Blutrot gestört wurde.

Dann bohrten sich klare, blaue Augen in meine, in denen ich mich komplett. Auch ihr schien es nicht anders zu ergehen. Irgendetwas hielt mich davon ab, die Verbindung zu unterbrechen, doch nach einer Weile gelang es uns doch.

Ich stupste sich leicht an. "Hast du denn keine Schmerzen?", fragte ich sie und deutete ich auf die vielen Wunden.

Sie nickte. Doch.

Dann schloss sie kurz die Augen, um ihre restliche Kraft zu sammeln. Als sie sie anschließend wieder öffnete, war die hübsche, blau-grüne Farbe ihrer Iriden in ein glühendes Gold übergegangen, das Funken zu versprühen schien. Fasziniert beobachtete ich, wie die goldene Farbe sich langsam einen Weg durch die Adern ihres gesamten Körpers bahnte. Erst nur im Gesicht, dann überall. Mit jedem Herzschlag breitete sich das flüssige Gold weiter aus, bis schließlich jede noch so kleine Vene golden durch ihre weiche Haut durchschimmerte.

An den verletzten Stellen leuchtete die Farbe stärker, begann regelrecht zu glühen, bis sie nach einigen Sekunden erlosch. Die Wunden waren nun geschlossen - das wusste ich aus Erfahrung. Dieses Gold war das, was uns so besonders machte. Es hatte die Fähigkeit, zu heilen.

In mir war eine solche Faszination ausgelöst worden, dass ich, nachdem die Farbe überall verloschen war beinahe vergessen hatte, zu atmen. "Wow", staunte ich und atmete die staubige Luft tief ein. "Ich - ich habe das zwar schon öfters gesehen und auch selbst erlebt, aber es ist trotzdem ziemlich beeindruckend!"

Mit einem schiefen Grinsen wandte ich mich an die Naomi, die erschöpft auf dem Steinboden saß. Ich setzte mich zu ihr und starrte auf ihre Haut, die außer ein paar Narben keine Spuren mehr von der Gewalt, der sie ausgesetzt gewesen war, aufwiesen.

"Erzähl mal", forderte sie mich erschöpft auf und strich mit ihrem Zeigefinger durch den Dreck. "Wie lange bist du schon hier?"

Obwohl sie mich erwartungsvoll ansah, zögerte ich etwas mit der Antwort und fuhr mir stattdessen verlegen durch die Haare. Doch dann entschied ich, ihr einfach alles zu erzählen. Ich vertraute ihr. Uns schließlich teilten wir ja dasselbe Schicksal.

"Schon einige Jahre." Meinen Blick hielt ich gesenkt, als ich fortfuhr. "Als sie mein Dorf überfielen, war ich 17. Viel zu jung, um mitanzusehen, wie die eigene Schwester getötet wurde. Damals wollte ich es nicht wahrhaben - will ich noch immer nicht. Sie haben sie liegen gelassen und mich einfach mitgenommen. Seitdem hocke ich jeden verdammten Tag hier in dieser Zelle. Ich sehe, wie mein Leben dahinschwindet. Ich sterbe einen ganz langsamen Tod."

Eine einzelne Träne, die sich in meinem Augenwinkel gebildet hatte, tropfte auf den Boden, wo ich sie sofort verwischte. "Dabei wollte ich doch nur ein normales Leben, wie alle anderen." Kleine Steinchen gruben sich schmerzhaft unter meine Fingernägel. Den stechenden Schmerz in meinem Herzen überdeckte es jedoch nicht. Eine weitere Träne folgte.

Warum ich mein Herz vor einer völlig fremden Person ausschüttete, wusste ich nicht, doch es fühlte sich richtig an. Denn sie war wie ich. Mit ihr fühlte ich mich verbunden. Dann spürte ich plötzlich ihre seidige Haut an meiner.

"Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich fühlst", gab sie ruhig zu, obwohl in ihrer Stimme Bitterkeit mitschwang. "Diese Feiglinge haben uns in der Nacht überrascht. Meine Schwester, Nala, und meine Eltern wurden im Schlaf ermordet. Meinem kleinen Bruder gelang es, zu fliehen. Nur mich, mich ließen sie am Leben. Wozu? Bis heute habe ich keine Antwort auf diese Frage erhalten. Laut ihnen war ich dazu auserwählt, ihre erste, weibliche Testperson zu sein. Ich hatte nie vor, bis an meinem Lebensabend Däumchen drehend hier zu sitzen. Und doch tue ich es. Wenn sie allerdings darauf aus sind, meinen Willen zu brechen, können sie lange warten."

"Zusammen sind wir stark", flüsterte sie. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ein knisterndes Band, eine Verbindung, entstand zwischen uns. Sie war wie ich.

Wie in Trance hob ich meinen Kopf. Sie weinte.

"Zusammen sind wir stark", wiederholte ich.

Der Fluch der Unsterblichkeit #ProvisorischerTitelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt