Anouk

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Der Tod war nichts Schönes.

Das wusste Anouk. Als Tochter von zwei hohen Tieren bei Scotland Yard kannte sie alle möglichen Schauergeschichten. Aber sie konnte es nicht verhindern, dass sie sich ein wenig freute.

Es war ihr erster großer Auftrag!

Das Pokerface war noch nie ihre Stärke gewesen, denn während der Fahrt sah Ryan zu ihr und grinste wissend. "Du kannst es kaum erwarten, oder?", erriet er ihre Gedanken. "Das kommt schräg rüber, oder?"

Ryan schüttelte den Kopf. "Ich bin seit mittlerweile 40 Jahren bei Scotland Yard, Anouk. So traurig es auch ist, ich hab in der Zeit genug Leichen gesehen, dass es mich nicht erschreckt, wenn ich höre das jemand umgebracht wurde. Ändern kann ma es sowieso nicht mehr. Aber wir können dem Opfer zumindest so weit helfen, dass wir den Mörder finden. Also so gesehen: Recht ist etwas, auf das man sich freuen darf."

"Mhm.", erwiderte sie nachdenklich. Sie versuchte sich alles in Erinnerung zu rufen, was ihr ihre Eltern über Polizeiarbeit beigebracht hatten. Plötzlich trat Ryan scharf auf die Bremse und der Wagen kam zum Stehen.

Der Sicherheitsgurt schnitt Anouk die Luft ab und sie blinzelte verwirrt gegen das blendende Sonnenlicht. "Was ist denn los?", fragte sie und starrte auf die Straße. Sie war leer. "Da war gerade noch ein Kerl in komplett schwarzer Kluft!", brauste Ryan sich auf. "Ich hätte ihn fast überfahren.

Anouk sah sich nochmal um. Die Straße war eng und es gab keine Gassen, in die man hätte verschwinden können. "Bist du dir sicher? Da ist niemand." Ihr Kollege knirschte mit den Zähnen. "Ganz sicher."

Dennoch fuhr er weiter und parkte in der Westsun Road. Um ein kleines Wohnhaus hatten sich bereits Passanten verteilt, deren neugierigen Blicke den Uniformierten folgten. Anouk und Ryan stiegen aus und präsentierten einem der Polizisten ihre Marke, worauf hin sie unter das Absperrband gelassen wurden.

Die Wohnung des Opfers lag im dritten Stock. Die ermordete Frau lag in ihrem Wohnzimmer. Ihr Bleistiftrock und ihre rosafarbene Bluse waren blutüberströmt. Es vermischte sich auch mit ihren weißblonden Haaren, die sich aus einem zuvor wohl ordentlichen Knoten gelöst hatten und ihre grauen Augen starrten blass ins Leere.

Die Todesursache war unschwer zu erkennen. Ein langer, tiefer Schnitt zog sich über ihre Kehle.

Eine schon etwas ältere Frau mit grauen Haaren und einer rechteckigen Brille kniete über ihr und begutachtete sie. "Hallo, Carol.", begrüßte Ryan sie. "Wie sieht's aus?" Die Angesprochene rückte ihre Brille zurecht und sah auf. "Todesursache war ganz klar ein Messerschnitt durch die Kehle. Sie ist innerhalb weniger Minuten verblutet. Ich schätze so zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens. Genaueres kann ich noch nicht sagen. Aber sie hat sich wohl gewehrt, ihre Fingernägel sind fast alle abgebrochen, aber kein Hinweis auf ein Gewaltverbrechen. An der Tür gibt es keine Einbruchsspuren. Also hat sie den Täter wohl reingelassen."

"Danke.", sagte Ryan und nahm von einem Kollegen der Spurensicherung mit Handschuhen eine Geldtasche entgegen. "Unser Opfer hieß Brienna McCoy. Sie war 32 und hier drin ist auch noch ein Dienstausweis von Harrods."

Anouk hörte nur mit halben Ohr hin. Neben der Couch, oder wohl er fast darunter, lag eine Münze. Sie zog sich ebenfalls Handschuhe an und hob sie auf. Sie war ganz aus Silber. Auf der einen Seite war ein mit Rosen umrangtes Kreuz. Auf der anderen ein Mann mit einer Pestmaske. Sie gehörte eindeutig zu keiner normalen Währung.

"Ryan.", winkte sie ihren Kollegen zu sich und zeigte ihm die Münze. Er packte sie ein. Dann gingen sie in den Flur. Unter den Nachbarn gab es womöglich Zeugen.

Bei den ersten fünf Türen hatten sie kein Glück, niemand öffnete. Erst ein alter Mann um die Siebzig entriegelte seine Tür. "Hallo?", fragte er freundlich und riss erstaunt die Augen auf, als er Ryan und Anouks Marken sah.

"Gut Tag, Sir. Ich bin Officer Ross und das ist mein Kollege Officer Baskin.", grüßte Anouk ihn. "Wir wollten Sie fragen, ob Sie gestern Abend zwischen zehn und drei Uhr irgendwelche merkwürdigen Geräusche oder verdächtige Personen bemerkt haben.

Der Mann riss die Augen noch weiter auf und sein Lächeln erstarb. Er schien zu überlegen. Als er sie ewig lang nur anstarrte, räusperte Ryan sich. "Sir?" Er blinzelte verstört, als wäre er aus einer Trance erwacht. "Ja ... verzeihung ... ich ... also ... nein, nicht wirklich."

"Okay, vielen Dank, Sir.", brummte Ryan und ging weiter. Aber Anouk kam er schon komisch vor. Sie zog eine Visitenkarte aus ihrem Blazer und reichte sie ihm. "Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, ganz egal was, rufen Sie mich bitte an."

Der Mann lächelte traurig. "Mach ich, mein Kind. Hoffentlich klärt sich das alles auf." Im Moment darauf stand sie wieder vor der verschlossenen Tür. Als sie Ryan folgte und die restlichen Nachbarn befragte, die ebenfalls nichts zu wissen schienen, ließ sie nur ein Gedanke nicht mehr los.

Dieser alte Mann weiß etwas

Zwischen Schatten und Licht (Anderwelten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt