Cole

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"Das ist reiner Wahnsinn, Cole.", sagte Jajan leise.

Cole fuhr sich müde durch die kohleschwarzen Haare und lehnte sich gegen die graue Fassade hinter ihm.

"Es geht nicht anders.", murmelte er erschöpft. Er hatte lange nicht mehr geschlafen, aber ein paar weitere Stunden würde er schon schaffen.

"Aber das ist gefährlich! Wenn es ein Dämon aus der Anderwelt ins andere London geschafft hat, dann muss er sehr mächtig sein. Nimm wenigstens mich mit."

"Nein.", antwortete Cole sofort. "Du bist eine Seele, ich weiß nicht, was passiert, wenn du zurück in die Menschenwelt gehst. Du könntest auf der Stelle zu Staub zerfallen oder..."

"Cole, ich hab bis jetzt immer auf dich aufgepasst, wie auf einen kleinen Bruder. Es ist meine Entscheidung. Ich will mitkommen."

"Sollte es nicht die Aufgabe eines Jägers sein, Seelen zu beschützen?"

Jajan lächelte schwach. "Dann retten wir uns gegenseitig, alter Freund?"

Cole brachte ebenfalls ein Zucken der Mundwinkel zustande. "So wie immer. Also los, fangen wir an."

Er holte einen kleinen Beutel aus seiner Manteltasche. Ein schwarzer Kreidestift lag darin. Im schwachen Licht einer Laterne erkannte man den leichten Silberschimmer, der ihn überzog.

Dazu nahm er ein kleines Papier heraus, auf dem das Zeichen für einen Übergang vorgemalt war.

Einen Moment lang zögerte er tatsächlich, ließ sich alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen, alle Risiken. Schließlich zog er wortlos die Linien, Kreise und Symbole nach.

Beide traten in die Mitte des Zeichens und flüsterten gemeinsam einige Worte in der Sprache der ersten Anderen und schlossen die Augen.

Ein Kribbeln durchfuhr Coles Körper wie ein Wärmeschauer und daraufhin ein heftiger Ruck, der ihn von den Beinen riss.

¿

Es dauerte eine Sekunde, bis er wieder klar denken konnte. Zuerst spürte er das kalte Straßenpflaster unter sich, das ihm in den Jahren bereits vertraut geworden war.

Er richtete sich etwas schwindelig auf. Jajan schien es ebenfalls halbwegs gut zu gehen, denn auch er stand wieder und sah sich neugierig um. Sie waren in einer Gasse gelandet, was Cole irritierte. Er hatte den Bann für den Dämonen ausgesprochen. Sie sollten eigentlich in seiner Nähe sein, aber hier war weit und breit kein übernatürliches Wesen.

Nur eine leere Gasse und die normalen Londoner, die auf der Straße ihrem Alltag nachgingen. Für Jajan war das alles neu. Seit seinem Tod hatte er die Anderwelt nicht mehr verlassen. Und das war einige Jahrhunderte her.

"Oh, du hast mir ja erzählt, dass sich London verändert hat, aber das ist..."

Er trat ans Ende der Gasse und musterte jede Person, jedes Geschäft und jedes Fahrrad ganz genau.

"... interessant."

Cole lachte leise und zog ihn hinaus auf die Straße. "Wir müssen den Dämon wohl so aufspüren, denn hier ist eindeutig keiner."

"Äh, Cole, sollten die Leute uns sehen können?", fragte Jajan plötzlich.

"Mich schon, aber dich eigentlich nicht, warum?"

Er deutete auf eine junge Frau mit einem Kaffebecher in der Hand, die Jajan prüfend ansah. Ein etwas älterer Mann trat neben sie und sie unterhielten sich kurz, eher er ebenfalls in ihre Richtung sah, aber dann wieder kopfschüttelnd zu ihr.

Die junge Frau ließ sich nicht beirren. Sie drückte ihm ihren Becher in die Hand und kam zu ihnen herüber.

"Guten Tag, die Herren. Scotland Yard." Sie präsentierte eine Marke. "Ihre Erlaubnis, bitte."

Cole setzte sein übliches Lächeln auf, wie er es immer tat, wenn er sich mit jemandem aus der normalen Welt unterhielt.

"Welche Erlaubnis, Officer?"

Sie kniff ihre bernsteinfarbenen Augen zusammen. Obwohl sie nicht klein war, musste sie den Kopf heben, um ihm in die Augen zu sehen.

"Na ja, Ihr Freund hier ist wie ein Graf aus Downton Abbey angezogen, also gehe davon aus, dass Sie beide Straßenkünstler sind. Und dafür benötigt man eine Genehmigung."

Überrascht sah er sie an. Sie dürfte Jajan nicht sehen. Und schon gar nicht in seiner normalen Gestalt.

Und da bemerkte er auch den feinen, schwarzen Staub, der auf ihrer Jacke haftete.

Sie war aber kein Dämon und eine Seele schon gar nicht. Ein Engel ebenfalls nicht, aber sie konnte Jajan sehen und dieser Staub...

Vielleicht arbeitete sie für einen Dämonen? Oder war sie gar die Person, die die den Dämonen deckte, der für den Mord von mindestens zwei Engel verantwortlich war?

Er kniff die Augen zusammen, was ihr nicht zu entgehen schien, denn sie funkelte ihn genauso finster an.

"Also? Was ist Ihre Ausrede?", fragte sie herausfordernd.

Sie war eine Polizistin und hatte einen Partner dabei. Es würde auffallen, wenn sie sie entführen würden. Aber wenn sie gefährlich war, konnten sie sie auch nicht weiter hier herumirren lassen.

"Ehrlich gesagt, wir waren gerade auf einer Kostümparty, aber jemand hat uns vorhin unsere Handys und unser Geld geklaut und wir sind auf dem Weg zum nächsten Polizeirevier."

Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch. "Warum haben Sie das nicht sofort erwähnt, als ich Sie nach Ihrer Genehmigung gefragt habe?"

Sie war nicht dumm und ganz sicher nicht auf den Mund gefallen. Aber das war er auch nicht. "Weil wir nicht von hier sind. Wir sind Amerikaner. Bei uns ist nicht jeder Kontrolleur ein Polizist."

Sie seufzte und schien nicht ganz zu glauben. Trotzdem gab sie nach. "Ich bringe Sie beide zum nächsten Revier. Und dann sehen wir mal, wer Sie überhaupt sind. Oder wollen Sie mir das sofort verraten?"

"Natürlich, Officer. Ich heiße Cole Graham und das ist Jacob Bailey."

Natürlich kaufte sie ihm auch das nicht ab und spätestens bei einem Revier würde sie die Bestätigung für seine Lüge haben. Aber so weit würde er es gar nicht kommen lassen.

Wie erwartet gab sie ihrem Kollegen Bescheid, um sie beide zu begleiten. Er musste nur noch den passenden Moment abwarten...

Kaum waren sie auf einer weniger besuchten Straße, packte er sie und zog sie in die nächste Seitengasse. Sie wandte natürlich die üblichen Tricks an und wollte ihm einen Ellbogen in den Magen rammen, aber er war vorbereitet und drehte ihrem Arm herum auf den Rücken.

In der Gasse presste er sie gegen die Mauer und sah sie auffordernd an. "Für wen arbeitest du!?", rief er und war froh, dass er stärker war als sie, denn sie hörte nicht auf, sich zu wehren.

"Wovon reden Sie überhaupt!?", schrie sie zurück.

Zwischen Schatten und Licht (Anderwelten - Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt