Zwischenwelt

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Die Tür schloss sich hinter mir. Ich stand in der Dortmunder Nordstadt und entschied mich für einen Spaziergang entlang der Kesselstraße.

„Nun geh endlich!“

Tina hatte herzlich gelacht, als sie mich eben vor die Tür schoben. Eine Spur zu aufgekratzt, aber galant, mit geschauspielertem Einfühlungsvermögen.

„Ich muss echt mit meinem Projekt weiterkommen!“

Der echte Grund der freundlichen Abschiebung lag wohl in einem Streitgespräch das sich über den ganzen Morgen hinzog. Nichts weltbewegendes, nein, eher eine Verkettung von Trivialitäten. Bedrückende Gespräche über Alltäglichkeiten, die bei übervollen Mülltüten begannen und bei meiner Lebenseinstellung endeten.

Die Freiheit breitete sich vor mir aus. Meine Laune erhob sich aus dem Dunkel des muffigen Hausflurs und wand sich vorsichtig wie ein junger Schmetterling aus einem Kokon der strahlenden Sonne entgegen. Die Temperatur stieg heute trotz des frühen Tages bereits gegen 20 Grad. Es war Juni und der Beginn eines wunderbaren Sommers.

Gestern ragten die alten verwitterten Häuserzeilen in dunkler Ungemütlichkeit dem grauen Wolkenhimmel entgegen. Wie ein Schiffbrüchiger durchschiffte ich damals die Gassen auf dem Weg zu Tina, durchnässt und verfroren.

Nun blinzelte ich der nachsichtigen Sonne entgegen. Verschmitzt und mit dem Gefühl eines pubertierenden Jungen, auf dem Weg, ein neues Leben zu entdecken.

Der seichte Wind wehte von Osten. Ich schwitzte und kaufte an einer Trinkhalle bitteren Kaffee auf die Hand, den ich nach zwei Schluck in die Mülltonne warf.

Der Winter zog dunkel trist dahin und wollte nicht enden. Der Frühling regnete das neu aufblühende Leben nieder. Heute durchleuchtete die Sonne mit Macht die Stadt zum ersten Mal in diesem Jahr. Der lang ersehnte Augenblick versprach Licht, Vergnügen und Veränderung.

Zwei Jungen standen mit einem alten Rad am Straßenrand. Ihre Hände unterhielten sich mehr als Ihre Münder.

Einer der beiden, vielleicht neun Jahre und türkischer Abstammung, trug einen schwarzen verwaschenen BVB Pulli. Keinen echten, sondern einen von denen, die auf den Grabbeltischen bei Woolworth und C&A auslagen. Mit selbst aufgesticktem Schriftzug auf dem Rücken. Ich konnte die Zeichen nicht entziffern.  

Sein älterer Freund, ein Blondshopf mit hochgebürsteten Haaren, trug ein zu kleines T-Shirt mit lachendem Spong Bob. 

Das Kinderrad, das der Blondschopf hielt, rostete der Schrottpresse entgegen. Der Lack war aufgesprungen und hinterließ braune Pockennarben auf dem wenigen Violett. Keine Gangschaltung, kein Licht, nur viele Sammelaufkleber aus Schokoriegeln und Lebensmittelgeschäften verdeckten die klaffenden Wunden des Fahrrad-Rahmens und so wurde es unverwechselbar. 

Der Blonde gab seinem Freund eine Lehrstunde im Fahrradfahren.

"Voll krass, Effe, wer kann denn nich rattfahn?" hörte ich ihn von weitem krähen, unüberhörbar laut. Sein Lachen schallte unflätig von den Häuserwänden wider. Doch er hielt bereitwillig das Rad an Sattel und Gepäckträger fest.

"Boah, Dennis, halti Fresse" erwiderte der Kleine und versuchte mühsam seine Wut und die in ihm hochsteigende Angst herunterzuschlucken. Er stieg mit so viel Würde, wie ein neunjähriger aufbringen konnte, auf das Rad. Seine Füße kamen gut an die Pedalen. Er drückte mit aller Kraft auf die Vordere und sein Freund schob ihn mit gebeugtem Rücken und sichtlicher Anstrengung den leichten Anstieg in meine Richtung hinauf.

"Isch schwör ai, das is voll leicht" rief der Kleine nach ein paar Metern.

Sein Freund ließ das Rad los und überließ den Kleinen der Schwerkraft. Er behauptete sich tapfer, schlingerte aber, den Lenker in kleinen Zickzacklinien bewegend in Richtung Bordsteinkante. Den Sturz, beobachtete der Größere mit aufgesperrten Augen, den Händen in den blonden Haaren aus einiger Entfernung. Das Rad fiel mit lautem Krawall zu Boden. Der Kleine rettete sich mit einem gewagten Sprung, rollte einmal über den Asphalt und stand im nächsten Augenblick wieder. Er rief etwas sehr zweifelhaftes auf Türkisch. Seinem eben noch selbstsicherem Gehabe wich Angst und Panik.

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