Jeder neue Tag ist offen und frei

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Ich plante zwei Wochen in Lübbecke bei Heiko, Susanne und Luisa, zu verbringen, doch ich spürte schon am zweiten Abend die Unruhe in mir. Ich liebte meine Nichte, meine Schwester und mochte sogar ihren prolligen Ehemann. Meine Unabhängigkeit, meine Freiheit aber litten unter der mir fremdgewordenen Familien-Idylle. Am dritten Abend klinkte ich mich aus. Abiturtreffen. Eigentlich organisiert als Zehnjähriges, aber die basisdemokratische Gemeinschaft verwendete Jahre für die Planung. Die Jahre sammelten sich unaufhörlich.

Damals undenkbar, freute ich mich heute auf meine ehemaligen Klassenkameraden. Die Zeit verwischte all die schlechten Erinnerungen wie der Regen die Kreidestriche auf der Straße.

Ulli, Achim und Zille, die mich in der zweiten Klasse in einen Mülleimer zwängten, Micha, der mich in der Quinta auf dem vollen Schulhof niederwarf und fast bis zur Besinnungslosigkeit ins Gesicht schlug, weil ich seine Freundin Kerstin geküsst hatte. Ich vergab allen.

Die friedliebende Art legte ich über die Jahre nicht ab; ich terrorisierte niemanden, nicht während meiner Schullaufbahn und nicht danach. Die Rüpel waren andere. Meine Rolle, die ich in der Schulzeit besetzte, war die des sonderbaren Einzelgängers. Ich strotzte schon damals vor Selbstbewusstsein und Eigensinn.

Um die Rolle auszufüllen musste ich viel Einstecken. Nicht immer belohnte mich das Schicksal, aber der Kuss von Kerstin schickte mich auf eine Achterbahnfahrt. Michas Schläge, sie trafen den Richtigen. Der unglaubliche Gefühlsausbruch in mir, dem die Schlägen voraus ging, ließen sie mich ertragen.

Den Nachmittag vor dem Treffen reservierte Demian. Er war mir ähnlich: Oft eigensinnig und verborgen feinsinnig. Niemand konnte ihm etwas anhaben. Er stand arrogant über den Dingen und die meisten Dinge langweilten ihn. Wir hielten während der Schulzeit zusammen wie Brüder.

Mit Demian und der kleinen Franzi lebte es sich erträglicher in dem biederen Kleinstadt-Idylle. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, waren eine Zeitlang fast so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Es gesellten sich immer wieder andere Freunde zu uns, aber wir waren der Kern, der wusste, dass wir unser Schicksal in die Hand nehmen würden, wenn die Zeit kam.

Demian lebte nun als freier Fotograf und Journalist in Berlin und der ganzen Welt. Er war extra für das Klassentreffen gekommen. Den ICE bis Hannover, dann die S-Bahn nach Minden. Unser Kontakt brach über die vergangen Zeit nicht ab. Wir schrieben uns regelmäßig lange E-Mails. Doch uns verband mehr als das.

Nach seinem Journalistik-Studium verschwand Demian abenteuer- und erfolgshungrig  in die Wildnis des brasilianischen Urwalds. Er schoss Bilder von einem nicht aussprechbaren indigenen Stamm nahe der Grenze zu Paraguay. Es waren Bilder von verzweifelten Menschen: Kinder, Väter und Mütter die von jeher in dieser Welt lebten und ihr täglich aufs Neue das Überleben abrangen. Es waren eindringliche Bilder. Bilder die zeigten, wie die Natur, der Regenwald, und mit ihm die gesamte Lebensgrundlage dieser Menschen systematisch zerstört wurden. Das Land wurde an Großgrundbesitzer weitergegeben, um Mais zur Produktion von Tierfutter und Koppeln für riesige Rinderherden anzulegen. Es sollte eine ganz große Story werden.

Nach zwei Monaten im Urwald rief mich Demian an. Er war komplett blank, seine Kamera war im Rio Guapore verschollen. Er mochte seinen Vater nicht wieder anpumpen, dem er schon das Geld für den Hinflug, die unglaublich teure Kamera und den Outdoor-Laptop verdankte.

Ich schickte ihm über Western Union einen Batzen Geld, den ich mir selbst mühsam zusammengespart hatte. Und so konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen. Er flog mit einem riesigen Schatz an Aufnahmen zurück nach Deutschland.

Zu Hause verkaufte er seine Geschichte tatsächlich an den Stern. Damit war er seine Geldsorgen los und ich bekam einen sehr großen Batzen Geld von ihm zurück. 

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