Alte Heimat

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Ich wartete am Bahnhof auf meinen Zug, der mich in die alte Heimat bringen sollte. Die Sonne schien, ohne dass auch nur eine Wolke die warmen Strahlen störte. Ein schlaksiger, pickeliger Typ mit Baseball-Kappe und weiten Jeans stand neben mir am Bahnsteig und starrte wie gebannt auf ein Mobiltelefon. Seine Finger fuhren flink über das leicht zerkratzte Gorilla-Glass. Er tippte und tippte. Und damit, so schien es, machte er sein kleines unbedeutendes Leben, erträglich. Der Glaube hielt ihn aufrecht, dass es irgendjemanden gab, da draußen in der Unendlichkeit des Digitalen Netzwerkes. Jemanden, der sich dafür interessierte dass er am Bahnsteig stand und mit Hash-Tags vollgestopfte Informationen hinausblies. Selbst wenn es sich bei diesem Jemand nur um ein Multimilliarden-Unternehmen handelte, das den Nutzer auf Links drehte um den eigenen nicht enden wollenden Wertzuwachs zu rechtfertigen.

Eine Frau um die Fünfzig trug ein altmodisches Kostüm, zu viel Schminke und eine große Brille. Diese versuchte verzweifelt und erfolglos, ihre Trägerin jugendlich aussehen zu lassen. Ihr kleiner Hund an einer bunt bestickten Lederleine blickte voller Angst auf die geschäftig vorbeilaufenden Menschen und winselte mit eingekniffenem Schwanz leise vor sich hin. Die Geschmikte kniete sich umständlich zu dem zitternden Fellbündel.

„Laika“ sagte sie in einem streng belehrenden, doch gütigen Tonfall „Du musst keine Angst haben, wir fahren heute raus aufs Land. Das wird dir gefallen! Wunderbar ist es da, wun-der-bar! Glaub mir nur.“

Ich fragte mich, ob die Frau wusste, dass eine Hündin namens Laika als erstes Lebewesen die Erdumlaufbahn erreicht hat. Sie wurde von der russischen Raumfahrtgesellschaft 1957 mit der Sputnik 2 in den Orbit geschossen und starb nach wenigen Stunden qualvoll in der überhitzten Kapsel. Die Russen planten keine Rückkehr von Laika und Sputnik 2. Die Kapsel mit dem Hundekadaver verbrannte 5 Monate später über dem karibischen Meer.   

Der Regionalexpress nach Bielefeld erschien pünktlich. Dortmund war für viele Reisende das Ende der bekannten Welt. Die letzte Station um die Zivilisation nicht verlassen zu müssen. Sie strömten aus den Türen wie zu einer Feuerübung - konzentriert, schnell, effizient, ohne jede Panik.

Mein Weg führte mich sonst eher ins Ruhrgebiet hinein, nach Bochum, Essen, Duisburg, Oberhausen, manchmal bis ins elitäre Düsseldorf. Dann ergatterte man Plätze nur schwer. Nun aber waren die Sitze gelichtet. Wer fährt schon nach Minden?

Ich fuhr die Strecke früher oft, um alte Freundschaften zu pflegen, für Familienfeiern, für Partys. Aber mehr und mehr meiner Freunde zogen weg aus Lübbecke, der Stadt meiner alten Heimat, die sich in meinem Gedächtnis dornröschengleich immer weiter hinter dichtem Gestrüpp vergrub um letztendlich dem Vergessen anheim zu fallen.

Ich wollte eigentlich bis nach Minden fahren, um mich dort von meinem Schwager abholen zu lassen. Ein Telefonanruf bei Franziska aber hielt mich davon ab. Franzi wohnte zu unserer Schulzeit in einem Nachbardorf. Wir besuchten dasselbe Gymnasium. Franzi gehörte zur gleichen Stufe wie Solveig. Uns trennten zwei Jahre, uns verband eine intensive Freundschaft. Nun lebte sie mit ihrem Dauerfreund in Bielefeld. Ich fuhr bis dorthin und plante nach einem Cafébesuch mit Franzi den Bummelzug direkt nach Lübbecke zu nehmen.

Mit 16 verliebte ich mich unbeschreiblich in Franziska. Eine dieser unerwiderten Lieben, die einem in diesem Alter das Herz brachen. Sie wünschte sich eine Freundschaft und Besessen von Liebe erfüllte ich Ihr diesen Wunsch.

Viele Jahre zogen seit dem ins Land, meine Liebe verflog schnell, aber unsere Freundschaft überlebte, auch wenn wir uns nur alle ein oder zwei Jahre sahen. Jetzt kam es wieder zu einem dieser seltenen, wertvollen Treffen.

Ich entdeckte Franzi in einer versteckten Ecke des Cafés hinter einem Frauenmagazin. Sie begrüßte mich wie sie es immer tat, mit einem warmen Händedruck, kühl und distanziert. Ihre Wurzeln lagen im obersten Eck Ostwestfalens, fast in Niedersachsen. Ohne dieses Wissen hielt man sie für ablehnend oder für arrogant. Vielleicht stimmte das sogar. Aber meine Körper trug ähnliche Gene. Wir verstanden uns.

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