I. Zurück in Rumänien

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Seit seiner Rückkehr nach Rumänien vor über einem Jahr musste Charlie sich mit dem Viperzahnweibchen herumschlagen, das ihm den letzten Nerv raubte. Als er nach dem Begräbnis seines Bruders im Reservat ankam, war er froh, sich um das "Biest" - wie er sie liebevoll nannte - kümmern zu dürfen. Sie war gerissen und hinterhältig und Charlie liebte es, dass er sich voll und ganz auf die Echse konzentrieren musste und an nichts anderes denken konnte.

Als er an diesem Morgen an seinem Schreibtisch aufwachte, verfluchte er sie jedoch. Sein Rücken schmerzte, seine Glieder waren steif und er hatte seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Das Weibchen hatte zum ersten Mal Eier gelegt und sein Team und er hatten alle Hände voll zu tun, sich um die werdende Mutter zu kümmern und die Eier in die Brutstation zu schaffen. Er zupfte sich die Pergamentseite von der Wange, die Tintenabdrücke davon noch im Gesicht. Missmutig starrte er darauf. Gestern war es ihnen endlich unter größten Anstrengungen gelungen, Mutter und Eier zu trennen und seither brüllte das Biest das ganze Reservat zusammen auf der Suche nach ihrem Gelege. Ihre markerschütternden Laute ließen ihn erschaudern und versetzten ihm jedes Mal Stiche in die Brust.
Plötzlich polterte Raoul in sein Büro mit verkohlten Haaren und roten Striemen im Gesicht.
"Besen! Los!", brüllte er und war schon wieder zur Tür hinaus. Charlie sprang hoch, schnappte den Feuerblitz neben seiner Tür und stürmte hinaus.
Das ganze Reservat schien in heller Aufregung. Hexen und Zauberer rannten durcheinander, Heiler und Trainer schrien einander kurze Anweisungen zu und als Charlie sein Team erblickte, hatte er genug Worte aufgeschnappt um zu Verstehen, was geschehen war: Das Weibchen war ausgebrochen.
Er deutete im Laufen Sean, Lidija, Sven, Raoul und Tim zu. Sie hasteten durch die breiten Gänge direkt auf den Durchgang zum Reservat zu.  Vor ihnen erstreckte sich ein breiter Talkessel, beinahe rund und sobald Charlie den vertrauten Kiesboden unter seinen Schuhsolen spürte, kletterte er auf seinen Besen.
Alle stießen sich auf sein Zeichen mit verbissenen Gesichtern vom Boden ab und stoben in die Richtung, aus der blaue Funken und dunkle Rauchschwaden aufstiegen. Das unverkennbare Zeichen der Drachenwärter und Drachen. Der Wind peitschte ihm heftig ins Gesicht als er sich immer weiter nach oben schraubte, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Charlie war mit Abstand der schnellste Flieger, aber das Weibchen war ihm weit voraus. Ihr Brüllen hallte weithin wider und er beugte sich tief über seinen Besen um sie rechtzeitig zu erreichen. Er wollte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn sie die nächste Muggelsiedlung errreichte.
Der Wind schnalzte ihm ins Gesicht wie Peitschenhiebe und zu allem Überfluss begann es nun in dicken Tropfen zu regnen. Besser als Kaffee und eine kalte Dusche, dachte er verbissen während er versuchte, das Weibchen in dem dichten grauen Regenschleier ausfindig zu machen.
Er fragte sich, wie zur Hölle es möglich war, dass man einen ausgewachsenen Drachen verlieren konnte und konzentrierte sich dann wieder voll und ganz auf seine Aufgabe. Mit angespannten Muskeln und blauen Lippen raste er weiter. Wo zur Hölle steckte das Biest?
Er wirbelte herum und suchte mit den Augen nach seinen Kollegen. Sven musste bald zu ihm stoßen, er war ein guter Flieger. Charlie konnte zwei dunkle Punkte ausfindig machen und wollte sich dann wieder umwenden. Einer seiner Kollegen schoss orange Funken ab. Warnung. Charlie wirbelte herum und flog los, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Zu spät bemerkte er, dass das Rauschen über ihm nicht vom Regen, sondern von großen Flügeln kam. Das Biest war direkt über ihm!
"Verfluchte Doxyscheiße!", brüllte er über seine eigene Dummheit und biss die Zähne zusammen. Reflexartig riss Charlie seinen Besen nach unten. Im Sturzflug raste er auf die Baumwipfel zu, in der Hoffnung sie rechtzeitig zu erreichen. Das donnernde Brüllen des Weibchens ließ seinen Besenstiel vibrieren. Der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Er spürte die Hitze, die von dem Körper des Drachens ausging. Sie würde doch nicht...
Die Feuersbrunst die ihn plötzlich einhüllte war so heiß auf seiner Haut, dass er das Gefühl hatte, zu schmelzen. Er spürte, wie der Griff seines Besens unter seinen Händen zerbröselte. Sein Herz schrie seine Lungen förmlich verzweifelt an, doch er schien nur brennende Flammen einzuatmen. Seine letzten Gedanken, als er wie ein Stein durch das Laubdach fiel, galten seiner Familie zu Hause im Fuchsbau.

Drachenherz & KräuterblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt