Fluchtversuche

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Natürlich sprach ich am folgenden Tag kein Wort mit Tom Riddle. Er war mit dem Angriff der Schlange zu weit gegangen und hatte mir dadurch schmerzlich bewusst gemacht, dass ich mich in seiner Gegenwart tatsächlich in Lebensgefahr befand. Zuvor hatte ich diesen Gedanken sorgsam in der hintersten Ecke meines Kopfes weggeschlossen, doch nun war ein Riss entstanden, den ich nicht wieder schließen konnte. Als ich Tom an diesem Morgen beim Frühstück sah, trug er wieder die ausdruckslose Maske, die er so angestrengt als sein wahres Gesicht zu verkaufen versuchte. Doch ich hatte unter die Fassade geblickt - Und seine grausame Seele gesehen. Ich konnte mich kaum mehr in einem Raum mit ihm aufhalten, panisch pochte mein Herz gegen meinen Brustkorb und meine Hände bebten unaufhörlich.

Als ich während des Frühstückes sorgsam jeden Blickkontakt vermieden hatte, verließ ich die Große Halle alleine und brach zu meiner ersten Stunde auf. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Tom sich im selben Moment von seinem Platz erhob und zielgerichtet auf mich zugesteuert kam. Er schritt so aufrecht und stolz wie eh und je und schien sich keiner Schuld oder Spannung zwischen uns bewusst zu sein. In mir tobte bei seinem Anblick ein Kampf der Gefühle - Ich hätte stark bleiben und an meiner Mission festhalten müssen, doch ich schaffte es nicht. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte, machte einen weiten Bogen um den Slytherin-Tisch und versuchte Tom über einen Umweg abzuschütteln. Ich nahm verworrene Abzweigungen durch die endlosen Gänge um ungestört zum Unterrichtsraum für Verwandlung zu gelangen. Hogwarts erschien mir in diesem Moment wie ein Käfig, in dem ich mit einem Raubtier gefangen war, das ständig auf der Lauer lag.

„Holmwood." die kalte Stimme, die mir heute höher als sonst vorkam, traf mich unvermittelt.

Tom Riddle trat aus dem Schatten eines schmalen Ganges hervor, der meinen Weg kreuzte. Er war furchteinflössender und erhabener als je zuvor. Sein Rücken war durchgestreckt, die Schritte lang und elegant und er trug den Kopf hoch.

„Du gehst mir aus dem Weg." bemerkte er lächelnd.

Ich rang um Fassung, doch meine Bemühungen waren vergebens. Ich spürte deutlich, wie mir das Blut in den Adern gefror und die Farbe aus meinem Gesicht wich.

Tom wartete einige Sekunden, doch ich antwortete nicht. „Ich erwarte dich um Punkt fünf Uhr in der Bibliothek."

Es war ein Befehl, keine Bitte. Ich mochte verängstigt sein, doch ich würde Tom Riddle nicht diese Macht über mich gewähren.

„Nein." sagte ich bestimmt. „Du hast versucht mich umzubringen."

Tom wirkte beinahe erstaunt. „Warum sollte ich dich umbringen, Evangeline? Ich brauche dich noch."

Ich lachte über die Unverblümtheit, mit der er zugab, was ich ihm bedeutete. „Ich lebe also noch, weil du mich brauchst. Was wird geschehen, wenn ich überflüssig geworden bin? Oder bereitet es dir einfach nur Freude, andere Menschen hin und wieder zu quälen?"

Meine Anschuldigungen schienen keinerlei Auswirkung auf Tom's Gemüt zu haben. Sein Gesicht blieb kühl und kontrolliert, kein Ansatz von Wut oder Schuldbewusstsein war darin zu erkennen. Warum sollte er sich auch angegriffen fühlen? Es war die Wahrheit - Und er war stolz darauf.

„Was willst du, das ich tue?" fragte Tom ungeduldig.

„Du könntest dich beispielsweise entschuldigen." schlug ich schnippisch vor.

Tom's Lippen wurden zu einem schmalen Strich und seine schwarzen Augen waren wutentbrannt. „Ich entschuldige mich nicht. Niemals."

Ich drehte ihm den Rücken zu und setzte meinen Weg zum Unterricht fort. Ich hatte kaum drei Schritte getan, als mein Arm schmerzhaft gepackt wurde und Tom mich mit roher Gewalt wieder umdrehte. Sein Gesichtszüge waren grauenhaft verzerrt und er schüttelte mich ungehalten.

The Heir of Slytherin || Tom RiddleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt