ᴅᴏɴ'ᴛ ʟᴇᴀᴠᴇ ᴍᴇ

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,,Aufstehen Liebling", die vertraute und wundervoll klare Stimme meiner Tante weckt mich am Morgen.

Langsam öffne ich meine, vom Schlaf verklebten, Augen und lächle sie noch leicht verschlafen an. Sie weckt mich immer so, seit ich bei ihr lebe. Jeden Morgen gibt mir ihre Stimme in meinen Ohren und ihr Gesicht vor mir die Gewissheit, dass ich noch da bin, dass ich nicht allein bin. Ebenso, dass sie noch da ist.

Nicht wie meine Mutter, ihre Schwester, die abgehauen ist als ich 5 Jahre alt war und mich mit meinem Vater alleine ließ.

Doch mein Vater ließ mich auch alleine. Er trank, viel zu viel. Dass das wirklich zu einem Problem geworden war, bemerkte ich erst circa als ich elf war. Sein Alkoholkonsum stieg immer mehr an.

Besonders, wenn er Stress hatte. Und das war ich für ihn. Purer Stress. Meine bloße Anwesenheit bedeutete schon Enttäuschung für ihn. Konnte ich verstehen. Meine Mutter verließ uns auch wegen mir. Der Meinung war er auch.

Aber meine Tante wollte mir das immer ausreden, dass ich keine Schuld daran hätte, aber ich glaubte ihr nie, besonders nicht mehr, nachdem auch mein Vater wegen mir weg war.

Durch den Alkohol hatte er seine Job verloren, das Haus, alles. Wir lebten zuletzt in einer winzigen Sozialhilfewohnung, in der der Kühlschrank auch nie groß bestückt war. Ich wurde immer dünner und es grenzte schon fast an Unterernährung. Wenn ich mich über Hunger beklagte kassierte ich Schläge von meinem alkoholisierten Vater.

,,Warum sollte ich mich für einen so undankbaren Sohn abschuften um Essen zu kaufen? Iss gefälligst in der Schule!'', waren die letzten Worte, die ich je von ihm gehört hatte. Hätte ich ja, aber er gab mir nur nie Geld für Essen mit.

Am nächsten Tag ging ich verzweifelt zu meiner Tante und sie nahm mich auf. Danach sah ich meinen Vater nie wieder. Ein letztes Mal sollte ich ihn bei der Sorgerechtsverhandlung wiedersehen, doch drei Tage vor der Gerichtsverhandlung brachte er sich um.

Tat er es, weil er mich verloren hatte? Unwahrscheinlich.

Weil er keine Kraft mehr für so etwas hatte? Vielleicht.

Oder möglicherweise ist er auch einfach im betrunkenen Zustand von der Brücke gefallen? Zu erwarten.

Immerhin kam ich so zu meiner Tante.
Auch an dem Tod meines Vaters gab ich mir die Schuld und verfiel oft in verdrängte Depressionen, die sich hauptsächlich in meinen Träumen widerspiegelten. Aber meine Tante war immer für mich da und ließ mir selten auch nur die Möglichkeit daran zu denken.

Auch meiner Tante schleicht sich ein Lächeln auf die Lippen. Sie hebt eine Augenbraue und deutet auffordernd mit ihrem Kinn auf meinen Schrank.

,,Anziehen. Du musst los. Abschlüsse werden nicht einfach donnerstags in der Kantine verteilt! Also los!", sie dreht mir den Rücken zu und geht Richtung Tür.

,,In fünf Minuten unten, sonst gibt es kein Frühstück mehr!", sie versucht ernst zu klingen, aber man sieht ihr so genau an, dass ihr Haargummi wahrscheinlich nicht nur ihre Haare, sondern auch ein Lachen zurückhält.

Ich verdrehe genervt die Augen und lasse seufzend mein Gesicht zurück in eines meiner Kissen plumpsen.
,,Taehyung!?", mahnt sie bedrohlich.

Plötzlich stehe ich förmlich hochkant im Bett und zwinge mich aufzustehen.
,,Ja doch!", fauche ich lachend zurück.

Mit ihr will ich mich lieber nicht anlegen. Das gäbe kein gutes Ende, wir streiten zu simular und würden immer wieder einen neuen Punkt finden um allem doch noch einen Sinn zu geben, der eigentlich nie vorhanden war.

Ich ziehe mich an, renne nach unten und schaufle mir mit einem Löffel die Cornflakes in den Mund und grinse dann zufrieden zu meiner Tante.

,,Was ist denn jetzt?", wundert sie sich belustigt, ,,Warum so gut drauf am Morgen?"

mind talk | ᵛʰᵒᵖᵉWo Geschichten leben. Entdecke jetzt