Langsam drückte ich die Tasten meines Klaviers. Genauer gesagt, meines E-Pianos. Ein anderes konnte ich mir nicht leisten. Das Geld vom Kassieren reichte leider nicht für ein Klavier aus Holz, da ich ja noch die Klavierstunden selbst bezahlen musste. Nicht das Mum mir nicht angeboten hätte etwas dazuzugeben... Ich wollte einfach selbst etwas verdienen und für meinen Traum kämpfen. Und so konnte Mum das Geld auch mal für sich ausgeben, was nie der Fall gewesen war. Mum hatte immer für mich gekämpft und deshalb sollte auch mal etwas für sie rausspringen. Das Klavier war also nicht das Beste überhaupt, sondern ein kleines, nicht schön klingende Etwas, das in meinem Zimmer in der Ecke stand. Doch fürs erste musste es reichen. Ich spielte eine kleine Melodie, die ich früher mal selbst komponiert hatte. Dann ein Stück von Clara Schumann, eine unbekannte Komponistin, der es verboten wurde Musik zu machen. Irgendwann in der Schule habe ich über sie ein Referat gehalten. Das war in der 3. Klasse und es ging darum über unsere großen Vorbilder zu halten. Die meisten nahmen irgendwelche Popstars, die definitiv kein Vorbild für einen 9-Jährigen Grundschüler sein sollten. Und ich hielt eben über Clara Schumann, von der niemand aus meiner Klasse etwas gehört hatte und ich könnte wetten, auch viele andere Menschen bis heute auch nicht.
Ich schloss die Augen und ließ alles los, das mich momentan belastete. Das war meine Therapie, meine Insel auf die ich mich zurückziehen konnte. Ich glaube viele Menschen brauchen einen Rückzugsort zu dem sie flüchten können, wenn alles zu viel wird. Ich habe Glück diesen gefunden zu haben. Ich liebte und liebe es immer noch zu spielen und es würde mich umbringen, wenn ich nicht mehr spielen könnte. Ich hörte, wie jemand, meine Mum, die Haustüre aufschloss und ich hörte nicht auf zu spielen. Früher hätte ich es getan. Musik war für etwas so wichtiges und kostbares, so dass ich es schützen wollte. Ich wollte es ganz für mich alleine, im Schutz vor Kritik und anderen Kommentaren, die mich entweder verlegen machten oder dazu brachten aufzuhören, an ihnen weiterzuarbeiten. Und das wollte ich nicht. Aber jetzt als meine Mum reinkam, störte es mich nicht. Meistens beachtete sie mich nicht und ließ mich in meiner eigenen Welt. Manchmal war ich ihr dafür dankbar und manchmal wünschte ich, sie würde mir sagen, was für ein schönes Stück ich doch spielte und das sie es toll findet, dass ich es spiele. Manchmal habe ich solche Gedanken und wünsche mir Anerkennung von Menschen, die ich liebe. Joyce hatte sich nie für Musik interessiert und wenn ich ehrlich bin wusste sie gar nicht wie ich spielte. Sie hatte nur ein einziges Mal bei einem Vorspiel zu geschaut und auch sonst hörte sie mich nie üben. Ich hatte immer das Gefühl ihr war das nicht so wichtig, obwohl es mir wichtig war. Ja ich wünschte mir manchmal Bewunderung für das, was ich tat und die bekam ich meistens nicht von denjenigen, von denen ich sie gerne hätte. Daraufhin spielte ich das Stück von Clara Schumann noch einmal. Vielleicht bin ich verrückt, aber wenn ich mich in ein Stück verliebt habe, muss ich es immer wieder hören. Ich glaube ich versuche dieses Gefühl noch einmal zu spüren, das ich beim ersten Mal hören hatte. So war es auch bei Liedern. Lieder konnte man einfacher als Klavierstücke verstehen, weil man dazu den Text hat und nicht nur die reinen Klaviertöne. Doch ich verstand sie. "Und das ist das Wichtigste, wenn du spielst. Du musst die Musik verstehen und fühlen, was der Komponist damit ausdrücken wollte. Und wenn es dich so sehr berührt, dass du weinen musst und Gänsehaut am ganzen Körper bekommst, dann hast du es begriffen" sagte meine Klavierlehrerin immer zu mir. Und das versuchte ich so gut es ging umzusetzten, gerade in diesem Moment spielte ich das Stück nocheinmal. Und als die letzten Töne erklungen hatte ich dieses Gefühl und wusste, dass ich wieder neue Kraft getankt habe. In diesem Moment erschien mir nichts mehr aussichtslos...ich fühlte mich für einen kurzen Moment nicht mehr hilflos...
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Helpless
Teen FictionLiv und ihre Beste Freundin Joyce stehen sich sehr nahe. Doch für Liv ist es alles nicht so einfach. Joyce hat große Probleme und Liv fühlt sich für sie verantwortlich, obwohl sie doch vieles nicht selbst auf die Reihe bekommt. Und dann ist da noch...