Was siehst du? (Deutsch)

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Eine Harfensaite.
Eine Hand mit schlanken, grazilen Fingern,
die einen Ton darauf anschlägt.
Inmitten dieser endlosen, weichen Schwärze,
die kein Licht je durchdringen könnte.
Dieser Schwärze, die du seit Ewigkeiten,
die genausogut hätten Sekunden seien können, anstarrst.
Ob deine Augen dabei geschlossen
oder geöffnet sind hat nie einen Unterschied gemacht.
Deine Gedanken fließen langsam und träge wie Honig und beginnen sich durch diesen einen Ton abzuwenden. Abzuwenden von der Schwärze und Resignation,
die dich bisher erfüllt hatten.
Als wenn ein Sonnenstrahl durch Tintenschwarzes Wasser fällt und langsam alles erhellt. Du bemerkst, dass du deine Augen geschlossen hattest und versuchst sie zu öffnen.
Nur fällt dir auf, dass da keine Augen sind. Dennoch fühlst du dich ruhig und geborgen.
Eine weitere Harfensaite. Die Hand streckt ihre Finger und spielt auch diesen Ton.
Ein warmes Gefühl umhüllt dich und du spürst etwas wie deinen Körper.
Er ist viel kleiner als du es in Erinnerung hattest. Erst da fällt dir ein, dass du keinen Körper gespürt hattest bis der zweite Ton angeschlagen wurde. Dein Körper fühlt sich komplett und perfekt an und deine Gedanken erfreuen sich an seiner Existenz.
Mit der dritten Harfensaite die angeschlagen wird nimmst du einen tiefen Atemzug. Wobei du bemerkst, dass du bisher nicht geatmet hattest. Dein Körper fängt an zu zucken und du kannst dich bewegen, nicht aber die Augen öffnen.
Mit mehr und mehr Tönen der Harfe erinnerst du dich an mehr und kannst deinen Körper mehr und mehr bewegen bis zuletzt beim zehnten Ton die Hand innehält. Diese Pause lässt eine Frage in deinen Gedanken auftauchen wie ein Wal im Meer. Woher wusstest du von der Hand und der Harfe? Genau da wird der zehnte Ton angeschlagen, gefolgt von allen anderen Tönen. Ton um Ton formen die Finger der Hand mit den Saiten Musik die immer schneller wird. Bald umschließen dich ganze Kaskaden von Tönen und deine Gedanken jubilieren während dein Körper sich in ihrem Takt bewegt. Durch all diese Töne hindurch hörst du plötzlich einen einzelnen Ton. Deine Gesammte Aufmerksamkeit richtet sich auf diesen Ton der sich wiederholt. Wieder und wieder. Ein einfacher Takt. Tock . . . Tock . . . Tock . . .
Ein simpler, eintöniger Rythmus der dich dennoch aus der Fassung bringt.
Denn erst jetzt hat dein Leben begonnen, erst jetzt hat dein Herz angefangen zu schlagen.
Die Musik wird weicher, schmiegt sich um den Takt deines Herzens und rührt dich zu Tränen.
Eine lange Zeit lauschst du nur dem Lied das sich um den stetigen Takt deines Lebens herum formt. Die Musik schwillt an,
die Hand bewegt sich flink und immer schneller werdend an den Harfensaiten.
Und mit einer letzten Woge an Tönen, die sich tsunamigleich über dich ergießt,
bricht die Musik in dem Moment ab,
in dem du deine Augen öffnest
und siehst.

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