Scherben im Dröhnen der Nacht

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Wir werden vom Dröhnen der Sirenen geweckt. So laut, dass es beinahe taub macht.
Ich springe aus meinem Bett. Hektisch suchen meine Augen den Raum ab. Meine beiden Schwestern Emma und Sophie sind ebenfalls wach. Sophie hockt verängstigt auf ihrem Bett und hält sich die Ohren zu. Emma ist aufgestanden und läuft eilig zu ihr. " Sophie, steh auf! Wir müssen los." Sie sagt es bestimmt, aber ich kann die Angst in ihrer Stimme hören. Sie will Sophie auf die Beine ziehen, aber die krümmt sich sofort wieder zusammen. Kurzerhand nimmt Emma sie auf den Arm. Sie sieht mich an. "Komm schon Hannah. Wir müssen jetzt gehen."
Die Tür öffnet sich und ich erblicke das verängstigte Gesicht meiner Mutter. Sie hält zwei Koffer in den Händen. "Schnell Kinder." Dann dreht sie sich um und geht in Richtung der Haustür.
Endlich finden meine Augen, was sie gesucht hatten. Das Bild von Vater.
Ich springe aus dem Bett und strecke die Hand nach dem Portrait meines Vaters aus, doch Emma unterbricht mich. "Hannah der Koffer." Ich drehe mich um und ergreife den dunkelbraunen Lederkoffer. Überrascht von dem plötzlichen Gewicht an meinem Arm sacke ich zur Seite, doch meine Angst lässt mich mein Gleichgewicht wiederfinden.
Im Gehen nehme ich den weißen Bilderrahmen an mich und folge meinen Geschwistern auf die Straße.

Draußen sehe ich überall Menschen, die laufen so schnell sie können. Alle tragen Koffer, kleine Kinder oder Haustiere.
Die Sirenen heulen noch immer. Hier draußen sind sie noch lauter als im Haus, doch ich habe keine Hände frei um mir die Ohren zuzuhalten. Der schrille Ton lässt mein Blut gefrieren. Ich laufe schneller. Sophie hält sich noch immer die Ohren zu und ich kann Emma vor Anstrengung keuchen hören. Aber auch sie läuft unbeirrt weiter.
Am Ende der Straße kann ich den Bunker sehen. Beinahe. Ich beschleunige meine Schritte, doch ich komme ins stolpern und falle. Mein Knöchel tut weh und ich schreie auf.
Emma dreht sich um, doch sie kann mir nicht helfen. Ich sehe, dass sie etwas schreit, aber ich verstehe es nicht. Ihre Augen brüllen mir förmlich ihre Angst entgegen und panisch versuche ich mich aufzurappeln.

Mein Knöchel schmerzt furchtbar und ich wäre beinahe wieder gefallen.
Aber Angst lässt einem unglaubliche Kräfte wachsen.
Ich schaffe es aufzustehen, greife panisch nach dem Koffer und will weiterrennen, da sehe ich das zersplitterte Glas auf dem Boden.
Vater.
Ich suche nach dem Rahmen und als ich ihn finde, drücke ich ihn im Laufen fest an meine Brust.
Die Scherbe  schneiden in meine Hände, doch das interessiert mich nicht.
Ich laufe, so schnell es meine Füße zulassen und sehe, wie die Erlösung näher kommt. In meinem Rücken glaube ich das Knattern von Motoren zu hören.
Mein Herz rast.

Endlich erreichen wir den Bunker. Meine Lungen brennen und Emma's Atem geht stoßweise.

Wir gehen durch die Tür ins Dunkel. Hinter mir höre ich eine Frau verzweifelt wimmern, warum ihre Katze denn nicht mit hinein dürfte und eine andere keifen, dass sowieso schon zu wenig Platz vorhanden sei.

Drinnen ist es voll und stickig. Wir suchen hektisch nach einem freien Platz, doch überall sind Menschen. Weinende, verängstigte, zusammengekauerte Menschen. Meine Mutter zieht uns schließlich in eine Ecke und wie betäubt stelle ich den Koffer ab und kauere mich daneben. Das Bild von Vater halte ich noch immer in der Hand.

Es knallt als die Türen geschlossen werden und wir zucken zusammen. Noch immer kann ich die Sirenen hören, doch im Bunker ist es auf einmal Still.
Die Ruhe vor dem Sturm.
Ich höre ein kleines Kind weinen.

Dann kommt der erste Einschlag. Ein gewalltiger Knall zerreißt dich Nacht.
Und ein weiterer.
Und noch einer.
Und noch einer.
Bei jedem Einschlag zucken wir zusammen. Ich höre Menschen weinen und schreien. Voller Angst drücke ich mich gegen meine Mutter. Sie nimmt mich in den Arm. Sie sagt etwas, dass ich nicht verstehe.
Sophie drückt sich mit aller Kraft die Hände auf die Ohren. Sie hat angefangen zu weinen.
Auch Emma weint. Sie hält Sophie so fest, als wolle sie sie ersticken.
Ein weiterer Einschlag.
Ich drücke das Bild meines Vaters gegen meinen zitternden Körper.
Jeder Knall schmerzt in meinem Kopf, wie die Glasscherben in meiner Hand.

Was soll das alles? Warum gibt es diesen Krieg? Warum machen sie alles kaputt? Kann dieser furchtbare Krieg nicht bald ein Ende haben!

Ich kauere mich noch mehr zusammen und kneife meine Augen zusammen.
Frauen weinen, Kinder schreien, Bomben schlagen in die Häuser ein, Sirenen heulen.
Es ist zuviel.

Ich kann nicht mehr!

Ich will, dass das aufhört!

Hört auf!

Und ich schreie. Schreie, damit der Schmerz aufhört.

"Hört auf!", schreie ich, " Hört auf! Hört auf! Hört auf!
Ich kann nicht mehr!"

Unendlich lange schlagen die Bomben ein. Und ich höre nicht auf zu schreien, bis sie aufhören. Dann breche ich im Arm meiner Mutter zusammen und weine.

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