Kapitel 1- erster Tag (Neumond)

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Schlagartig öffne ich die Augen. Mein Herz rast. Ich hyperventiliere. Als meine Sicht klar wird, sehe ich den Himmel über mir. Mein Verstand dagegen ist noch nicht ganz klar, doch ich realisere, dass ich auf dem Boden liegen muss. Es ist Morgen, die Sonne ist im Begriff, aufzugehen, und die Vögel zwitschern. Panisch schießen mir Gedanken durch den Kopf.
Was ist geschehen?
Wo bin ich?
Warum bin ich hier?
Ich kann keine Antworten finden, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Alles ist weg. So, als wäre ich jetzt gerade geboren worden. Was vor meinem Erwachen geschehen ist, zu rekonstruieren? Unmöglich. Erinnerungen? Fehlanzeige. Ich weiß nur noch, dass ich ein Mädchen bin. Großartig.

Ich möchte aufstehen, doch sobald ich mich bewege, durchströmt mich Schmerz. Die Art von Schmerz, der seinen Ursprung in vielen kleinen Wunden hat, die den Körpern übersäen. Ich zucke mit einem Stöhnen zusammen. Erst jetzt empfinde ich auch die Steifheit meiner Glieder. Mein Rücken schmerzt, und ich kann nicht sagen, ob das daran liegt, dass ich zu lange gelegen habe, oder ob er einfach aus dem gleichen Grund wehtut, weshalb mein Körper so schmerzt. Nicht dass ich wüsste, warum. Also versuche ich für den Anfang, meinen Kopf leicht hin und her zu drehen. Das gelingt mir auch mit reichlich Anstrengung. Ich kneife die Augen zusammen. Eine Vielzahl von Bäumen steht um mich herum-ich muss im Wald sein, aber warum, zum Teufel?!- und ein leichter, lauwarmer Wind weht durch ihre grünen Kronen, die aber noch nicht ganz so dicht sind, wie sie im Sommer wären-es muss Frühling sein. Das passt auch mit der Außentemperatur zusammen. Nicht zu warm, aber auch nicht zu kühl. Ich schließe die Augen, fühle das Laub unter mir. Ich versuche, mich zu beruhigen, atme tief ein und aus, inhaliere die frische Waldluft. Eigentlich ist es hier ganz friedlich, ich bin hier nicht in Gefahr. Es wäre nur ganz praktisch zu wissen, warum ich hier bin. Das würde die Situation dann völlig entspannen.

Mir ist bewusst, dass ich hier nicht ewig herumliegen kann. Nun, theoretisch wäre das schon möglich, doch das ist definitiv nicht mein Ziel, und deshalb gebe ich mir einen Ruck. Unter Keuchen und Stöhnen richte ich mich auf und nehme den stechenden Schmerz in Kauf. Als ich endlich sitze, atme ich erleichtert auf. So. Geschafft. Ich sehe erstmal reflexartig an mir herunter. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Verwunderung und leichtem Entsetzen sehe ich, wie meine Kleidung in Fetzen hängt. Zerissenes, von dem Dreck und dem Blut gefärbtes T-Shirt, dass das Nötigste bedeckt. Zerissene Jeans, deren Zerfetztheit über jeden Trend und jeden Geschmack weit hinausgehen. Schuhe trage ich nicht, und Socken sind auch nicht in Sicht. Die altbekannte Panik kehrt wieder zurück. Ein schrecklicher Verdacht lässt sich in meinem Gehirn nieder. Ich liege zerschunden im Wald mit zerissenen Kleidern...Wurde ich...?
Nein, das kann nicht sein. Ich kann mich mehr als vehement wehren. Ich bin eine Kämpfernatur.  Natürlich gibt es Menschen, die stärker sind als ich. Aber ich war doch...Zuhause!

Verdutzt, aber überglücklich bemerke ich, dass ich mich an etwas erinnert habe. Ja, ich war Zuhause. Doch mehr weiß ich dann auch wieder nicht, und ich kann mir immer noch nicht erklären, wie ich hierher gekommen bin. Aber wenigstens steigt in mir jetzt die Hoffnung darauf, dass ich es nach und nach erfahren werde.

Mir stellt sich die Frage danach, was ich als nächstes tun sollte. Schnell fasse ich einen Entschluss. Nach einer weiteren großen Kraftanstrengung schaffe ich es, mich auf die nackten Füße zu hieven. Mit wackligen, stechenden Beinen kämpfe ich mich langsam voran und versuche, dorthin zu treten, wo sich nicht etwas in meinen Fuß bohren könnte. Doch in einem Wald ist soetwas unvermeidbar, und so schüttele ich ab und an kleine Steinchen von meinen schon vorher lädiert gewesenen Sohlen.

Nach einer Weile kann ich mich wieder annähernd normal bewegen und nehme an Tempo zu, an die pochenden Wunden habe ich mich zwar noch nicht gewöhnt,  aber ich bin nicht in der privilegierten Lage, mich darüber beschweren zu können. Ich weiß zwar nicht, wo ich hinlaufe, doch ich hoffe, irgendeine Form von Zivilisation zu finden, vielleicht auch einen Jogger oder eine Joggerin, die mir helfen können. Also laufe ich immer weiter, weiter durch einen schönen, durch die aufgehende Sonne erleuchteten Wald, dessen friedliche Atmosphäre nur dadurch gestört wird, dass ein verlorenes und erinnerungsloses Mädchen darin umherirrt. Aufmerksam durchstreife ich ihn, auf der Suche nach Antworten und versuchend, nicht in Panik zu verfallen und die Hoffnung aufzugeben. Doch ein mulmiges Gefühl bleibt.

Ich weiß nicht, wie lange ich bereits laufe, als ich vor mir den Wald lichten sehe. Da vorne könnte eine Straße sein! Aufgeregt beschleunige ich meine Schritte, bis ich renne, der Wind streicht an mir vorbei. Endlich passiere ich die letzten Bäume und breche ins Freie, auf eine Lichtung.

Keine Stadt.

Keine Häuser.

Keine Menschen.

Keine Straße.

Nur eine Lichtung im Wald, eine Grünfläche, sonst nichts.

Entmutigt lehne ich mich an einen Baum.

Meine anfängliche Enttäuschung hat mich jedoch Dinge übersehen lassen. Bei genauerem betrachten entdecke ich am Horizont aufgestelltes Holz, für ein Lagerfeuer hergerichtet. Die Stelle, an der es steht sieht aus, als ob sie schon oft benutzt worden wäre, doch das Holz an sich ist noch frisch, so als ob es vor kurzem errichtet wurde, um es demnächst anzuzünden. Das belebt wieder meine Geister und ich bewege mich, das weiche Gras unter meinen Ballen spürend und mich nach jemanden umschauend, auf die Stelle zu.

"Hallo?", rufe ich. "Ist da jemand?"

Zwar antwortet mir niemand, doch ich habe plötzlich das beängstigende Gefühl, dass ich die Aufmerksamkeit unentdeckter Personen auf mich gezogen habe und viele Augenpaare auf mir ruhen. Mein Herzschlag beschleunigt sich, mir wird heiß und Schweiß beginnt, mir den Rücken herunter zu laufen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass man mich beobachtet. Ich möchte noch einmal rufen, doch mir bleiben die Worte im Hals stecken. Und obwohl niemand in Sicht ist, spüre ich ihre Anwesenheit.
Ihre Anwesenheit.
Sofort folgt der nächste Gedanke, er jagt den vorherigen, und ich frage mich,wer diese Personen-sind es überhaupt Menschen? -wer diese Wesen sind. Seltsam genug, dass ich von Wesen spreche. Warum eigentlich? Sonst können es doch nur Waldtiere sein. Aber irgendwie... Irgendwie weiß ich, dass es sich hier nicht um die üblichen Waldbewohner handelt. Und außerdem entzünden Rehe keine Lagerfeuer... Aber was machen Menschen hier im Wald?
Menschen.
Mein Verstand stört sich wieder an diesem Wort, er rebelliert. Als ob er weder die Präsens von Mensch noch Reh spürte, sondern... etwas... anderes. Ich bin verwirrt. Doch, es sind Menschen, aber sie sind irgendwie anders.
Verflucht, wie komme ich auf solche Gedanken?
Ist mir das hier alles zu Kopf gestiegen?
Ich bin unentschlossen und unsicher. In Momenten wie diesen fangen manche manchmal an, zu laufen. Einfach zu gehen, gerade aus, ein Schritt nach dem anderen. Ich bin einer dieser Menschen, und so beginne ich, mich auf das gestapelte Holz zu zubewegen. Es ist das einzige, was mir gerade vertraut und vertrauenswürdig erscheint.
Warum auch immer.
Aber ich mache mir die Mühe jetzt nicht mehr, das auch noch zu hinterfragen.
Und dieser Gedanke bringt mich tatsächlich zum Grinsen, denn hinterfragt habe ich von meinem Erwachen bis jetzt so ziemlich alles. Ja, eine gewisse Ironie findet sich so oft eben in diesen eher... schrägen Situationen, in der Wirrheit und Bizzarheit und sogar in der Verzweiflung. Und auch, wenn hier eigentlich gar nichts witzig ist: Dieses Grinsen spendet mir Trost, und egal, ob es gerechtfertigt ist oder nicht-ich brauche es jetzt. Und so laufe ich wie eine Irre scheinbar grundlos grinsend weiter.
Rückblickend kann ich sagen, dass ich damit geradewegs durch die Grenze einer Reihe von Schutzzaubern gewandert bin. Aber in dem Moment fühlte es sich sehr seltsam an, in etwa so, als würde ich durch einen Vorhang aus Wackelpudding laufen.
Nach dieser interessanten Erfahrung bleibe ich erst einmal, nun sehr unsicher und nicht mehr ganz so stark grinsend stehen und sage laut zu mir:
"Okay, das war seltsam."
Um ehrlich zu sein, hat sich das "seltsam" eher genuschelt angehört, da ich in dem Moment plötzlich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gedrückt wurde. Mein Grinsen landete im Matsch, und mit Erde im Mund lässt es sich nun mal nicht gut reden.


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