Kapitel 3

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Ich träume.

Es ist einer dieser häufigen, sehr seltsamen, verwirrenden Träume, und die Handlung ist undurchschaubar. Ich sehe Personen mit einander reden, deren Gesichter mir bekannt vorkommen, aber Identitäten ich gerade nicht greifen kann, zudem ist alles verschwommen und unscharf, wie in Nebel getaucht. Das erleichtert mir die Zuordnung dieser Menschen nicht unbedingt, und so bleibt mir nichts übrig, als die Geschehnisse mit getrübter Sicht zu beobachten.
Eine der Personen, die gerade geredet haben, läuft auf mich zu. Vor mir angekommen sagt er irgendetwas, doch ich kann ihn nicht verstehen. Mein Gehör scheint genauso eingeschränkt wie meine Sicht, denn auch die Wörter erreichen mich nur gedämpft, unklar und verschwommen. Mein Traum-Ich blickt dem Menschen in die Augen, der weiterhin auf dieses einredet. Ob er etwas von mir will? Ich stelle mir die Frage, ohne dass ich die Antwort darauf als wichtig erachte und bin mir nicht sicher, ob ich ihn anschaue oder durch ihn hindurchblicke. Mir fällt lediglich auf, dass seine verwaschene Stimme etwas sehr beruhigendes und angenehmes hat.
Der Träger dieser Stimme hört auf zu reden und umfasst mich. Er stellt mich vorsichtig auf die Beine, doch als er merkt, dass sie unter mir nachgeben, hebt er mich sanft hoch und trägt mich. Ich wehre mich nicht. Das mag an dem Gefühl der bedingungslosen, aber unglaublich zufriedenstellenden Gleichgültigkeit liegen, die mich innerlich ausfüllt, jedoch auch daran, dass ich nicht die geringste Spur von Gefahr von diesem Menschen ausgehen spüre. Ich bin mir nicht sicher, welche der beiden Möglichkeiten der Grund ist. Vielleicht ist es eine Mischung aus beiden. Vielleicht auch nicht. Aber sicher ist, dass dieses Gefühl, das ich gerade habe und nicht benennen kann, sich wunderschön anfühlt, und ich wünsche mir, dass ich niemals aufwachen werde.

Das nächste, was ich bewusst im Traum wahrnehme, ist, dass etwas kühles über meine Wunde am Hals streicht. Ich spüre keinen Schmerz. Seltsame, verwaschene Wörter erreichen meine Ohren, deren Herkunft ich keiner Sprache aufgrund der Unverständlichkeit zuordnen kann. Jedoch scheinen sie wiederholt zu werden, denn der Klang bleibt gleich. Ich merke plötzlich, dass sich etwas verändert. Die Umgebung wird immer klarer, nimmt an Verschwommenheit stetig ab: Meine Sicht schärft sich wieder. Die Geräusche werden immer deutlicher, bis ich sie wieder einzeln und differenziert hören und zuordnen kann.

"...Sanentur...Gut, das sollte genügen..."

Auf einen Schlag befinde ich mich wieder in der realen Welt. Geräusche, Sicht, alle Sinne sind wieder hergestellt. Ich muss aufgewacht sein. Hektisch blicke ich mich um. Die Erinnerung an den Tod, dem ich knapp entronnen bin, zieht rasend an mir vorbei. Das letzte, was ich vor diesem eigenartigen Traum mitbekommen habe, ist, dass man mich noch rechtzeitig verschont hatte und danach...ja, danach war wieder einmal Leere. Wie oft ist mir das heute, an einem einzigen Tag, bereits passiert?

Während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, erblicke ich einen Mann vor mir. Bevor ich ihn genauer begutachten kann, springe ich auf.

Es reicht! Ich werde nicht länger alle paar Minuten das Bewusstsein verlieren! Niemand wird mich versuchen zu töten!

Wut und Zorn durchströmen mich, sie verdrängen das blanke Entsetzen und die blanke Ungläubigkeit über das, was mir widerfahren ist. Während diese Gefühle mich, würden sie die Überhand gewinnen, in ein zitterndes Wrack verwandeln würden, verleiht mir der Zorn Kraft. Die ganze Situation macht mich wütend, doch ich mache mir auch Vorwürfe. Warum habe ich mich nicht schon vorher gewehrt, warum saß ich nur gelähmt und verstört da? Zeit, dem ein Ende zu setzen! Das Brüllen in meinem Kopf findet seinen Weg nach draußen. Unartikuliert schreie ich den Mann mit meinem ganzen Furor an und stürme auf ihn zu. Vor Verblüffung über diese völlig unerwartete Reaktion meinerseits bewegt er sich nicht von der Stelle, was ihm zum Verhängnis wird. Ich rase in ihn hinein, schlage auf ihn ein und lande, bevor er das Gleichgewicht verliert und stürzt, ein, zwei heftige Treffer, ehe ich in einer fließenden Bewegung davonrenne.

Ich laufe so schnell ich kann, Adrenalin und Wut beflügeln meine Schritte. Ich weiß nicht, wohin ich laufe, ich möchte nur schnellstmöglich weg von diesem Ort, bereit, jeden, der mir in den Weg steht, umzumähen-und wenn ich sie nicht niederstrecken kann, dann werde ich mich wenigstens tapfer schlagen und bis ans bittere Ende kämpfen.

Ich merke, wie ich auf das Ende der Lichtung zurase, meine Füße berühren den Boden kaum. Ich könnte genauso gut ein Falke sein, der durch die Lüfte rauscht, denn ich fühle mich, als würde ich fliegen. Verwunderung kommt in mir auf, denn ich bin weder außer Atem noch spüre ich meine Beine ermüden. Im Gegenteil, ich fühle mich in der Lage, ewig in diesem Tempo weiterzulaufen. Doch die Verwunderung wird schnell von Euphorie abgelöst, da dieses Gefühl zu fliegen einfach herrlich ist und außerdem könnte es ja sein, dass ich früher einfach viel Laufsport gemacht habe und deshalb so fit bin.
Hinter mir ertönt die Stimme des Mannes, den ich niedergerammt habe. Er ruft nach mir und fordert mich verzweifelt auf, anzuhalten, aber sein Geschrei interessiert mich nicht, so lange er mir nicht zu nahe kommt, aber das sollte er zu seiner eigenen Sicherheit nicht wagen. Ungeahnte Kräfte in mir warten nur darauf, dass ich ihnen freien Lauf lasse, und nur zu gern testen sie sich an einem menschlichen Körper aus.
Ich sehe Gesichter an mir vorbeiblitzen. Ich bin so schnell wieder an ihnen vorbei, sodass ich ihre Gesichtsausdrücke nicht zu erkennen vermag, allerdings kann ich sie mir nur zu gut vorstellen. Plötzlich spüre ich wieder dieses seltsame Gefühl, als würde ich durch eine unsichtbare Mauer gehen, und dann breche ich auch schon durch einiges Gestrüpp und ein paar Büsche, und ich bin wieder im Wald.
Ich laufe noch ein wenig weiter, bis ich mich vergewissern kann, dass mir niemand, insbesondere dieser Mann, folgt. Ich komme zum Stehen und blicke mich um. Ob sich meine Atmung aufgrund meines Laufs beschleunigt hatte, weiß ich nicht, jedenfalls ist sie jetzt wieder völlig normal.
Die Himmelsfetzen, die ich durch die Baumkronen sehen kann, färbt die Sonne langsam orange-rötlich und eine leichte, lauwarme Brise raschelt durch das Laub und streicht mir an die Wange. Ich sauge die frische Luft durch meine Lungen und schließe entspannt die Augen, während ich meine Nase in den Luftzug halte.
Endlich Ruhe.
Als ich die Augen wieder öffne, steht der Mann neben mir.
"Was zum...?!"
Ich mache einen Satz rückwärts und schaue ihn entgeistert an. Ruhig erwiedert er meinen Blick mit seinen grünen Augen, die mir wie bodenlose Teiche erscheinen. Ich bin sofort in ihnen gefangen, falle, schwimme in ihnen, tauche, schwimme...
Der Typ, der sich verdammt gut angeschlichen haben muss und seine schwer in Worte zu fassenden Augen drehen mir seinen Rücken zu und er macht, die Finger hinter sich verschränkt, ein paar bedächtige Schritte nach vorne.
"Ein schöner Abend, findest du nicht?"
Sprachlos stehe ich da wie ein verlorener Pfifferling.
"Ich..äh..."
Die Lähmung, die mich gerade übermannt, ist gleich wie die vorherigen und trotzdem ganz anders.
Er dreht sich wieder zu mir um.
"Komm, wir gehen ein paar Schritte."
Eigentlich sollten in meinem Kopf die Alarmglocken schrillen. Eigentlich sollte ich mich auf der Stelle umdrehen und rennen. Eigentlich sollte ich diesen Menschen hassen oder fürchten oder zumindest eine Abneigung gegen ihn verspüren. Doch nichts davon tritt ein.
"Du brauchst keine Angst zu haben, ich verspreche dir, dir nicht wehzutun."
Meine Beine bewegen sich auf ihn zu, als hätten sie ihren eigenen Willen.
Der Mann wartet, bis ich bei ihm bin und geht dann, mich an seiner Seite, geradeaus, in den Wald hinein.


27 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt