Kapitel 5

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Für einen Moment bin ich fest davon überzeugt, dass ich gerade in einem unglaublich schlechten, klischeebehafteten Film die Hauptrolle spiele und stelle mir vor, wie ich bis vor die Nase des Mannes stolziere und ihm dann eine klatsche. Das möchte ich auch tun. Stolzieren nicht, aber den Rest? Sehr gerne. Ich bin wütend. Wütend, weil ich keine verdammte Antwort auf eine relativ simple Frage bekomme. Es muss kein Roman sein, der als Erklärung dient. Mir hätte es gereicht, wenn er den kurzen W-Fragen-Katalog durchgegangen wäre. Doch meine Wut wird schnell durch Verwirrung verdünnt. Für was entschuldigt er sich? Hinzu kommt, dass er so aussieht, als meine er es wirklich ernst. Sein Gesichtsausdruck ist betroffen und einfühlsam und ich wäre eine Närrin, würde ich meinen ganzen Ärger ungebremst und dauerhaft auf ihn richten. Ich atme also erneut tief durch und fülle meine Lungen mit der erfrischenden, wohltuenden Luft und starte einen neuen Versuch.

"Was tut dir-"

"Du hast recht. Ich sollte dir alles erzählen und dich aufklären, und das werde ich auch tun. Es ist dein gutes Recht."

Etwas verblüfft blicke ich ihn an. Hat sich die Sache so schnell erledigt?

Der Mann setzt erneut an, doch plötzlich ändert sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Konzentriert starrt er in zwischen die Bäume, den Blick von mir abgewandt. Es ist seltsam, aber ich muss unweigerlich an die gespitzten Ohren eines Hundes denken, wie ich ihn, seine Haltung und seine Ohren natürlich mit zusammengekniffenen Augen beobachte. Es erscheint mir, als sei eine heftige, unangekündigte Sturmfront über sein vom Leben gezeichnetes Gesicht hereingebrochen, und ich bin wieder von Kopf bis Fuß angespannt.

Kampf- und Fluchtbereit. Irgendetwas stimmt nicht.

Er macht einen Satz nach vorne und hat, schneller, als ich reagieren kann, meine Hände hinter meinem Rücken mit seinem festen Griff gefesselt. Ich erschrecke und winde mich keuchend und knurrend, doch das macht das Ganze nur noch schmerzhafter.

"Was...tust...du...da?!", schreie ich, panisch werdend, mein positiv gewordenes Bild von ihm innerhalb von Atemzügen in tausend Splitter zerbrochen; ich fühle mich von ihm betrogen.

"Hör' mir gut zu. Du musst mir jetzt vertrauen. Gleich werden Rudelmitglieder hier auftauchen. Ich werde ihnen sagen, dass ich dich eingeholt und gefangen habe. Wenn Fenrir dich später fragt, ob du hinter ihm oder Voldemort stehst, sag' ja. Das ist wichtig, verstehst du? Sag' ja, du schwörst es. Widersetze dich unter keinen Umständen..."

Mein Begleiter spricht schnell und eindringlich. Dennoch strahlt er eine unglaubliche, angenehme Ruhe aus.

Was er sagt, ergibt Sinn, meine Panik legt sich. Ich spüre und ich weiß, dass dieser Mann es nicht auf mich abgesehen hat. Und ja, ich muss mir selbst gestehen, dass ich ihm vertraue. Entschlossenheit macht sich in mir breit. Auch eine gewisse Ruhe kehrt in mir ein und ich bin erstaunt und beeindruckt, wie ansteckend sie ist-nicht, dass ich mich darüber beschweren würde. Es ist ein gutes, mutmachendes Gefühl.

Er raunt mir ein letztes "Achtung, es geht los!" zu.

Als die Meute durch das Gestrüpp bricht, bekommen seine Worte Gehalt . Richtigen Gehalt- nicht, dass sie vorhin unbedeutend waren, nur haben sie sich jetzt mit Fleisch und Blut gefüllt, vielleicht das Blut, dass mir gleich von meiner aufgeschlitzten Haut tropft...

Denn zu meinem Entsetzen sehe ich meinen Fast-Henker, der, soweit ich mich erinnere, auf den Namen Krvi hört.

Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas lässt diese Menschen so... unmenschlich aussehen. Gut, nicht alle, die hier seltsamerweise im Wald zu hausen scheinen (und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, mir darüber Gedanken zu machen, geschweige denn machen zu wollen); mein Begleiter gehört ganz klar nicht dazu. Aber der Anblick der meisten, wenn nicht alle, die sich in diesem Suchtrupp befinden, lassen eben solche Szenen wie diese durch meinen Kopf ablaufen; und das wahrscheinlich-erschreckenderweise-zu Recht. Und Krvi- bei ihm fange ich gar nicht erst an.

Ich spüre den festen, aber dennoch vorsichtigen und sanften Griff, der meine Arme hinter meinem Rücken festhält, nehme einen tiefen Atemzug und wappne mich für das, was kommen mag.

Lasset die Spiele beginnen.

"Also das mag ich ja gar nicht glauben. Die Töle! Ausgerechnet die Töle hat sie gefangen. Leute, seht ihr das auch, oder träume ich etwa?"

Der Mann, der mir fast das Leben genommen hätte, vielleicht Ende Zwanzig bis Mitte Dreißig, dreht sich schief grinsend zu seinen Gefährten zu seiner rechten und linken Seite um. Diese verfallen in höhnisches Schnauben. Offenbar sind nicht-geistesgestörte, freundliche und empathische Menschen hier nicht diejenigen, denen man anerkennend auf die Schulter klopft.

War ja so klar.

"In der Tat", entgegnet besagter Nicht-Geistesgestörte schlicht.

Krvi schnaubt abfällig, bevor er ihn wegstößt und mich dabei aus seinem Griff reißt. Stattdessen hält er mich nun am Kragen fest, mein Gesicht Millimeter von seinem entfernt. Und das ist wohl das Sanfteste, zu dem er fähig ist. Ich sollte mich fast geehrt fühlen, dass seine Nägel nicht in meinem Arm stecken. Oder in meinem Hals.

"Du"- ein Orkan aus Mundgeruch und Spucke weht mir mit vollster Wucht ins Gesicht und löst meinen Würgereflex aus (und ich versuche, dabei zu bleiben, da ich nicht denke, dass sich meine Situation verbessern würde, würde ich ihm ins Gesicht brechen)- "kommst jetzt mit mir", knurrt er.

"Das war ganz schön dumm von dir. Der Boss wird dich in Stücke reißen...Du weißt gar nicht, wie schade ich das finde."

Ich horche auf. Hat er womöglich doch ein...

"Ich hätte dich so gerne zerfetzt."

Ach so.

Er lacht wieder dreckig und ich schwöre mir, dafür zu sorgen, dass sein Gesicht genau so aussehen wird, nachdem ich es in den Waldboden hineingestanzt habe. Klar, er ist ungefähr unendlich Mal stärker als ich, aber man muss sich im Leben eben Ziele setzen.

Als ich wieder aus dem Gedanken aufwache, werde ich auch schon abgeführt. Ich hätte mich wehren, es zumindest versuchen können. Vielleicht hätte ich mich losreißen können und dann wäre ich gerannt, so wie vorhin, schneller als ich jemals hätte denken können, vermutlich schneller als sie, und irgendwann hätte ich den Waldrand erreicht und wäre frei gewesen. Ich spüre den Drang, genau das zu tun. Mich nicht einfach so abführen zu lassen, anfühlend wie eine Niederlage. Mich nicht einfach zu ergeben, sondern zu kämpfen und es ihnen zu zeigen. Diesem Albtraum endlich entkommen.

Doch insgeheim weiß ich, dass ich keine Chance habe. Mein Fluchtplan ist hoffnungslos unrealistisch und letztendlich würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch alles verschlimmern, wenn nicht auch direkt in den Tod steuern.

Und daher bleibt mir nur eines übrig: Dem guten Rat folgen, den mir mein wahrscheinlich einziger Verbündeter gegeben hat.

Und so endet mein kurzes Rendezvous mit der Freiheit, und ich werde abgeführt, wieder zurück, wieder in den Wahnsinn mit seiner zermürbenden, zähen Ungewissheit.

27 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt