Kapitel 4

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Im Schein der untergehenden Sonne betrachte ich ihn genauer, jetzt, da ich weder vor ihm flüchte noch ihn zu Boden stoße. Er schweigt, und ich befinde mich wie zwischen zwei Türen. Die eine ziert ein Schild mit der Aufschrift „Sag' doch was! Sprich ihn an, verdammt!" während die andere förmlich „Was zum Teufel tust du da gerade?" schreit.

Meine Augen wissen nicht, wo sie anfangen sollen und beschließen, es ganz unten zu tun. Das ist die ungefährliche Zone, für die bedarf es keinerlei Überwindung.

Seine Schuhe sind kaputt, das ließe sich schon mal sagen. Das Glänzen des Leders ist unter einer relativ dünnen, aber hartnäckigen Schicht aus Staub begraben, und schön glatt ist dieses auch nicht mehr. An der Spitze löst sich schon ein klein wenig die Sohle und wenn das einmal geschehen ist, schreitet die völlige Ablösung bekanntermaßen sehr schnell voran. Dieses Schuhwerk hat wohl lange keine gepflasterte Straße mehr gesehen. Was macht dieser Mann-was machen diese Menschen-falls es welche sind- hier im Wald? Offenbar leben sie hier, aber wie kann das sein? Ich runzele gestresst die Stirn und atme dann tief durch.

Konzentrier' dich. Du kannst dir nachher darüber nach Herzenslust Sorgen machen.

Sein Schuhwerk, ein altes, braunes, eigentlich nicht waldbodentaugliches Paar Wingtip-Schuhe, sehen aber auch nicht so aus, als seien sie jemals schick gewesen und teuer waren sie ganz bestimmt nicht. Nicht, dass das wichtig wäre. Aber interessant. Ich kann mögliche Optionen, die seine Herkunft betreffen, ausschließen und fühle mich dabei ein bisschen als spielte ich „Wer bin ich". Aus reichem Hause stammt er wohl nicht. Ein Obdachloser vielleicht? Ich atme einen Stoß Luft aus, sodass ein leises Geräusch zu hören ist. Hier sind doch alle mehr oder weniger Obdachlos.

Seine ebenfalls braune Chinohose ist noch in relativ guter Verfassung, abgesehen von dem Dreck eben. An ein paar Stellen geht der Stoff auseinander, doch noch ist da kein richtiges Loch. Ein hellgraublauer Hemdkragen schaut unter der grauen, am rechten Ärmel leicht zerschlissenen, braunen Tweedjacke hervor und ich erkenne, dass er eigentlich ganz gut gekleidet ist, wie ein Gentleman, der eben ein sehr kleines Budget hat.

Habe ich gerade Gentleman gesagt?

Die Frage erleichtert es meinen nervösen Augen nicht, ein Stückchen nach oben zu wandern. Stattdessen entdecken sie plötzlich die Vorzüge der Schuhe und beschließen, sich noch einmal ganz intensiv mit ihnen zu beschäftigen.

Ich hätte gedacht, dass ich so in meinen Gedanken- oder in den Schuhen- verloren sein würde, dass ich verpasst hätte, wenn er angefangen hätte zu reden. Doch ich bin hellwach und ganz Ohr, als er sein Schweigen bricht, und ich weiß innerlich ganz genau, dass ich nur darauf gewartet hatte.

„Das muss eine ganz schreckliche Situation für dich darstellen. Du musst dich furchtbar fühlen."

„Es geht eigentlich", nuschele ich.

Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie er den Kopf wendet und ich spüre seinen Blick auf mich ruhen. Ich kann nicht mehr widerstehen und ich sehe ihm in die Augen. Und erschauere.

„Dass du stark bist, weiß ich schon. Ich habe es spätestens gemerkt, als ich auf dem Boden lag."

Er grinst dieses Grinsen, wobei man den Mund geschlossen lässt. Ich zittere ein wenig, und ich fühle mich verdammt lächerlich. Mich zusammenreißend, richte ich meinen Rücken gerade auf und malträtiere den federnden Untergrund mit festen Schritten; erst jetzt wird mir wieder durch den immer wiederkehrenden, stechenden Schmerz bewusst, dass ich ja immer noch barfuß bin.

Wenn du dich von ein paar messerscharfen Fingernägeln nicht umbringen lässt, dann werden es ein paar Augen auch nicht tun.

„Selber schuld. Hättest du mich nicht festgehalten."

Für einen kurzen Moment hatte ich überlegt, ob ich ihn siezen sollte. Aber dann besann ich mich. Meinen Entführer würde ich ganz bestimmt nicht siezen.

Genau, der gleiche Entführer, mit dem du gerade freiwillig mitgehst.

Ich schüttele den Gedanken ab wie eine lästige Fliege und merke dabei, dass ich mich tatsächlich leicht schüttele.

„Abgesehen von der Tatsache, dass ich dich nicht festgehalten habe-wie heißt du denn eigentlich?"

Ich mag nicht, in welche Richtung das Gespräch geht, nämlich, dass er die ganzen Fragen stellt und nicht ich. Wenn, dann möchte ich wenigstens auch die Kontrolle über diese Unterhaltung behalten.

„Wie heißt du?", antworte ich daher trotzig mit einer Gegenfrage.

Der Mann sieht für einen Hauch von einer Sekunde so aus, als wolle er es mir verraten. Dann sagt er:

„Das ist nicht so wichtig."

„Mein Name ist auch nicht so wichtig." Doch, ist es. Ich wüsste verdammt gerne, wie er lautet. Wie ich heiße. Wer ich bin.

Herzliches Lachen seinerseits. Es entspannt mich, und als meine Schultern ein ganzes Stück tiefer sacken, merke ich, wie verspannt ich gewesen war. Seltsamerweise lachen die langen Narben in seinem Gesicht mit und sehen wider erwarten weder bedrohlich noch entstellend aus. Im Gegenteil, sie machen ihn auf unerklärliche Weise noch freundlicher, noch sympathischer, und ohne sie kann und will ich ihn mir gar nicht mehr vorstellen. Ich kann nicht anders. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht und es gestaltet sich als sehr schwierig, es zu verkneifen.

Ich beschließe, die entstandene Pause zu nutzen und ergreife die Initiative.

„Wo bin ich hier eigentlich? Was macht ihr? Und was zum Teufel war das vorhin alles?"

Die Dämmerung verschluckt ihn langsam und legt sich wie eine schützende, federleichte Decke um seine Silhouette, doch ich sehe noch ganz genau, wie sein Gesichtsausdruck schlagartig ernster wird. Die Narben büßen ein wenig von ihrem Charme ein. Für einen Moment sieht er so aus, als wolle er etwas sagen, doch er bleibt still. Ich sehe ihm an, dass er nachdenkt, und ich werde nervös. Was ist es, dass sich nicht geradeheraus sagen lässt? Nach einer Pause, die sich gerade so noch als "kurz" bezeichnen lässt, rückt er endlich mit der Sprache heraus. Doch sein Tonfall ist nicht gehetzt oder genervt, nicht nervös und auch nicht beunruhigt. Er spricht auf diese ruhige und beruhigende, gefasste und sanfte Art, die mich so in den Bann nimmt und die ich überall wiedererkennen würde. Ich kann nicht anders als mich geborgen zu fühlen und beiße mir sofort zur Strafe auf die Zunge.

"Ich nehme an, dass du-"-Er schaut mich kurz prüfend an- "-ungefähr im siebten Jahr sein müsstest. Werwölfe hast du schon lange im Unterricht behandelt, nicht wahr?"

...Was?

Ich schaue ihn verständnislos an. Meine Hoffnungen darauf, eine klare Antwort zu erhalten, zersplittern krachend in tausende, unendlich kleine Bruchstücke bedeutungslosen Nichts.

Werwölfe? Im Unterricht? Siebtes Jahr?

"Ich...äh...", stottere ich. "Ich weiß nicht, was du meinst...?"

Der Mann blickt mich erstaunt an. Ich beobachte, wie sich sein Erstaunen in Sorge verwandelt.

"Hast du schon einmal von Hogwarts gehört? Von Hexen und Zauberern?", fragt er vorsichtig.

Ärger kommt in mir auf. Ich fühle mich, als würde er mich zur Närrin halten wollen.

"Nein, habe ich nicht! Von Hexen und Zauberern natürlich schon, aber was die jetzt damit zu tun haben sollen, ist mir ein Rätsel! Ich habe keine Zeit für Geschichten, ich würde zu gerne wissen, warum ich hier im Wald aufgewacht bin, in diesem Zustand und ohne Erinnerungen und ich würde ebenso unheimlich gerne erfahren, warum man versucht hat, mich zu töten, verdammt!"

Mein Gesprächspartner ist stehengeblieben und schaut mich traurig an.

"Was ist denn?", frage ich ihn gereizt und komme ein Stückchen weiter ebenfalls zum Stehen. "Wenn du mir keine Antworten geben kannst, dann lass' mich wenigstens gehen. Weißt du, wie ich aus diesem Wald hier herauskomme? In welcher Richtung die nächste Stadt liegt?"

"Es tut mir leid.", sagt er nur, doch er scheint es zu meinen.

"Was? Was tut dir leid?" Ich kneife die Augen zusammen.

Er schüttelt langsam den Kopf.

"Alles."

27 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt