6: Verhalten

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Ich laufe langsam zur Schule und komme natürlich viel zu spät. Mir ist das egal und ich setze mich ganz hinten hin. Ohne etwas mitzubekommen schaue ich aus dem Fenster. Nach dem Unterricht laufe ich nach Hause und mache meinem Vater Mittagessen. Dann mache ich Hausaufgaben und lerne ein bisschen. Anschließend gehe ich duschen. Am Abend mache ich meinem Vater etwas zu Essen. Dann verschwinde ich mit einem Brot und einer Flasche Wasser in meinem Zimmer. Ich lege mich auf mein Bett und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich vermisse meine Mutter einfach nur. Und was soll ich bitte mit der Nummer von Cem und Paul anfangen? Wer vertraut sich denn bitte Bullen an? Ich sicherlich nicht.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwache, ist es halb acht morgens. Ich mache meinem Vater schnell Frühstück und ziehe mich dann an. Dann sehe ich, dass im Kühlschrank nichts mehr ist. Also nehme ich mir Geld aus der Haushaltskasse und laufe zum nächsten Supermarkt. Da heute Samstag ist, ist der Supermarkt sehr gut besucht. Ich kaufe alles nötige ein und bezahle. Dann schleppe ich die Einkäufe nach Hause und räume sie ein. Bald darauf ist auch schon Zeit, um Mittagessen zu machen. Also mache ich heute einen Auflauf. Anschließend bringe ich es meinem Vater, zusammen mit einer Flasche Bier. ,,Du Göre, warum dauert das so lange", brüllt er und verpasst mir eine Ohrfeige. Ich halte mir entsetzt die Wange und mir laufen vereinzelt Tränen übers Gesicht. Ich renne in mein Zimmer und weine.

Plötzlich klingelt es an der Tür. Ich wische meine Tränen weg und mache auf. Vor der Tür stehen Cem, Paul und Franco in Zivil. ,,Was macht ihr denn hier?", frage ich überrascht. ,,Willst du mit uns spazieren kommen?", fragt Cem. ,,Von mir aus. Ich komme gleich", sage ich und hole schnell mein Handy und ein bisschen Geld. Dann ziehe ich meine Nikes an und nehme den Schlüssel mit. Wir laufen ein bisschen durch den Park. Dann setzen wir uns auf eine Bank und ich spiele mit meinen Fingern. ,,Woher kommt die Verletzung auf deiner Wange?", fragt Franco auf einmal. ,,Keine Ahnung", lüge ich. Ich möchte das jetzt nicht auch noch erklären. ,,Jetzt mal ehrlich, das weißt du doch ganz genau. Und sag jetzt bloß nicht, dass du gegen die Tür gelaufen bist oder die Treppe runtergefallen", sagt Paul. ,,Man, ich weiß es nicht und jetzt nervt nicht", sage ich. ,,Okay, ist schon gut", schlichtet Cem. Paul seufzt und lehnt sich zurück. ,,Wie war die Schule gestern?", fragt Franco. ,,Gut", murmele ich. ,,Wir wissen, wie dich das alles mitnimmt aber du darfst nicht schwach werden. Wir sind für dich da, okay?", sagt Franco. Ich nicke einfach, damit sie mich in Ruhe lassen. ,,Wollen wir wieder los? Wir haben alle noch Schicht heute", meint Cem nach einer Weile dann. Ich nicke und wir laufen wieder zu mir. ,,Ruf uns an, falls etwas sein sollte", sagt Paul noch. Dann mache ich die Tür hinter mir zu und atme erleichtert auf. ,,Wo warst du, du Mistgöre?", brüllt mein Vater. ,,Ich war spazieren", sage ich. ,,Was fällt dir eigentlich ein", ruft er und verpasst mir gleich noch eine Ohrfeige. Ich reiße die Tür wieder hinter mir auf und renne raus. Ich laufe ziellos durch die Straßen, bis ich schließlich vor einem Streifenwagen lande. ,,Oh Gott, geht es Ihnen gut?", spricht mich ein Polizist an. Ich richte mich wieder auf und sehe ihm ins Gesicht. ,,Lisa?", fragt er. Es ist Tom, ausgerechnet. ,,Ja, alles gut. Ich habe nur bemerkt, dass ich spät dran bin", lüge ich ihn an. ,,Bist du dir da sicher?", hakt er nach. Ich nicke. ,,Na schön, sollen wir dich nach Hause fahren?", fragt er. Ich schüttele den Kopf und laufe weiter. Irgendwann komme ich wieder daheim an und verschwinde sofort in mein Zimmer. Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater mich mal schlägt. Niemals.

Am Sonntag mache ich nur Essen für meinen Vater und verschwinde sofort wieder in meinem Zimmer. Dort liege ich in meinem Bett und überlege, was ich machen soll. Vielleicht einfach weglaufen? Ja, das wäre wahrscheinlich die beste Lösung. Dann hat mein Vater niemanden mehr, den er schlagen kann und ich kann ohne größere Probleme leben. So mache ich es. Also lasse ich ein paar Flaschen Wasser mitgehen und immer wieder etwas zu essen. Dann ziehe ich mir meine Nikes an und packe eine Jacke ein. Mein Handy lasse ich mit Absicht daheim liegen, nehme ich mir vor. Ich nehme alles Geld aus der Haushaltskasse und dem Geldbeutel meines Vaters. Insgesamt sind es knapp 500€. Den Rucksack verstecke ich unter meinem Bett. Ich hole mir noch eine Flasche Wasser und schließe die Tür ab.

Gegen halb elf, als ich meinen Vater ins Bett gehen höre, nehme ich meinen Rucksack. Dann schleiche ich mich aus dem Haus und renne die Straßen entlang. Plötzlich hält ein Streifenwagen neben mir. ,,Lisa, was ist denn los? Warum bist du so spät noch unterwegs?", fragt eine sehr bekannte Stimme. Das ist eindeutig Cem. Ich renne sofort wieder los. Jedoch bemerke ich, dass mich jemand verfolgt. Wahrscheinlich Cem und Paul im Streifenwagen. Ich renne aus der Stadt raus und direkt auf den Wald zu. Dort verstecke ich mich abseits vom Weg, damit man mich nicht so schnell entdeckt. ,,Lisa, komm raus", höre ich immer wieder jemanden rufen. Mir ist das egal. Ich will einfach mal ein bisschen alleine sein und nachdenken. Und ich will nie mehr zu meinem Vater zurück. Er hat mich ohne jeglichen Grund geschlagen. Auf einmal rascheln Blätter neben mir und Cem taucht auf. ,,Bitte, verpetz mich nicht", flüstere ich. Er nickt einmal kurz und verschwindet wieder. Zwei Minuten später raschelt es wieder und Cem taucht nochmal auf. ,,Ich verpetze dich nicht. Aber ich komme gleich nochmal und dann reden wir. Ich will nur reden. Also bitte, lauf nicht weg", sagt er leise. Ich nicke und lehne mich gegen einen Baum. Zehn weitere Minuten später kommt Cem wieder durch die Büsche gestolpert. ,,Du bist noch da. Warum bist du denn weggelaufen?", fragt er. ,,Ich brauche ... Abstand", sage ich leise. ,,Von was denn? Von uns?", fragt er überrascht. ,,Nicht wirklich", sage ich. ,,Sag es mir doch. Ich erzähle keinem etwas", verspricht Cem. ,,Ich kann aber nicht. Ich ... es geht einfach nicht", sage ich. ,,Und was hast du denn jetzt vor?", fragt er. ,,Ich weiß es nicht. Ich möchte aber nicht zurück", sage ich. ,,Lisa, eigentlich muss ich das melden, dass ich dich gefunden habe", sagt Cem. ,,Bitte nicht, ich kann nicht mehr zurück. Bitte, Cem", jammere ich. ,,Na schön, ich sage erstmal nichts. Aber du versprichst mir dann, dass du nichts dummes machst", sagt er. Ich nicke und atme erleichtert aus. ,,Komm doch mit zu mir, da findet dich niemand und ich muss mir keine Sorgen machen, dass du erfrierst", schlägt er vor. ,,Okay, aber du darfst wirklich keinem etwas sagen", wende ich ein. ,,Versprochen. Und jetzt komm", sagt er und hilft mir auf. Wir laufen langsam zum Parkplatz. Dort steht ein schwarzes Auto. Ich steige mit gemischten Gefühlen ein und starre während der gesamten Fahrt aus dem Fenster. Als wir anhalten, schaue ich auf. Wir stehen vor einem Haus. ,,Das gehört dir?", frage ich. ,,Ja, aber dort wohnen auch noch Paul, Franco, Julia, Paula und Phil", sagt er. ,,Was?", frage ich erschrocken. ,,Keine Angst, sie haben alle Nachtschicht und morgen erklären wir es einfach. Sie verstehen es sicherlich und wir sind auch nur Menschen", sagt Cem. Ich nicke und folge ihm ins Haus. Er zeigt mir ein Zimmer, an das auch ein Badezimmer grenzt. Ich mache mich frisch und ziehe meine Wechselkleider an, die ich eingepackt habe. Dann lege ich mich ins Bett. Wenige Momente später klopft es an der Tür. Cem kommt herein. ,,Ich möchte noch mit dir reden. Willst du mir nicht doch erzählen, was passiert ist?", fragt er. ,,Aber du darfst es wirklich keinem sagen", breche ich schließlich doch ein. Warum können Männer so überzeugend sein? ,,Ich verspreche es dir", sagt Cem. ,,Mein Vater hat nicht nur getrunken. Er hat mich auch geschlagen und mir ein paar Ohrfeigen verpasst, weil er nicht schnell genug sein Essen bekommen hat", erzähle ich ihm. ,,Echt jetzt? Was ist das denn bitte für ein Vater?", entsetzt sich Cem. ,,Ich weiß nicht, vielleicht ist das seine Art zu trauern", vermute ich. ,,Vielleicht. Aber das darf er nicht, Lisa", erklärt er mir. ,,Und jetzt?", frage ich. ,,Jetzt schläfst du erstmal. Es ist schon spät", sagt Cem und geht wieder. Ich lege mich hin und schlafe relativ schnell ein.

Died in your ArmsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt