Teil 2

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Ich saß am Fenster und starrte hinab in den Garten.

Über ein Jahr lebte ich nun schon hier und es fühlte sich fast wie Zuhause an. Fast.

Der Schmerz über den Verlust meiner Eltern war abgeebbt, doch er war nie ganz verschwunden. Wahrscheinlich würde er das auch nie. 

Myra und Alexander taten alles dafür, dass ich mich wohl fühlte. Und trotzdem fühlte ich mich manchmal unendlich einsam. Ich hatte Freundinnen, das war es nicht. Dennoch hatte ich oftmals das Gefühl, als würde mich niemand wirklich verstehen. Ich fühlte mich fehl am Platz, wie eine Außenseiterin – und ich konnte nicht einmal sagen, weshalb. Doch tief in mir drin gab es dieses Gefühl, dass ich anders war.

Ich schüttelte meinen Kopf und stand von der Fensterbank auf. Langsam ging ich hinüber zum Bett, sank auf die Matratze und zog die Decke über mich. Morgen war Montag und ich musste früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.

Ich schloss meine Augen.

Ein leises Knarzen riss mich kurze Zeit später aus dem Schlaf. Ich blinzelte, doch es dauerte einige Zeit, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Eine dunkle Gestalt stand neben meinem Bett und ich setzte mich erschrocken auf.

"Schhh", hörte ich Alexanders Stimme und sank zurück auf mein Kissen. Ich spürte, wie die Matratze ein Stück nach unten sank, als er sich auf die Kante setzte. Er hob seine Hand und strich sanft über meine Wange.

"Was ist los?", fragte ich verwirrt und sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Was wollte er?

"Ich hab gesehen, wie du mich beim Abendessen angeschaut hast", sagte er leise und aus irgendeinem Grund begann mein Herz, schneller zu schlagen.

"Was?", flüsterte ich und schluckte schwer. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

"Wie war dein Wochenende?", fragte er. "Ich hatte keine Gelegenheit, dich zu fragen, wie Madeleines Party war."

"G... gut", stotterte ich. "Sie war gut."

Ich sah, wie er nickte und sich langsam nach vorne beugte. Erneut legte er eine Hand gegen meine Wange und beugte sich über mich, bis ich seinen heißen Atem an meinem Ohr spürte.

Was passierte hier? Was wollte er von mir?

Seine Hand wanderte zu meiner Schulter und dann tiefer, fand den Saum meines T-Shirts und schob es nach oben. Sein schwerer Oberkörper presste mich fester in die Matratze.

"Alexander?", fragte ich verunsichert, doch er schien mich nicht zu hören, sondern küsste meinen Hals.

Das hier fühlte sich falsch an. Doch ich wusste nicht, was ich tun sollte.

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Ich stand unter der Dusche und schrubbte mit dem Schwamm immer wieder über meine Arme, meinen Bauch, meine Beine. Doch es half nicht. Ich fühlte mich immer noch dreckig. Tränen rannen meine Wangen hinab, doch das heiße Wasser wusch sie augenblicklich fort. Immer wieder tauchten die Erinnerungen an die letzte Nacht in meinem Kopf auf und ich schluchzte hysterisch. Doch auch das half nicht.

"Ebby?", hörte ich plötzlich Myras Stimme und ich zuckte zusammen. "Komm endlich aus dem Bad oder du kommst zu spät zur Schule."

Ich schaltete das Wasser aus und wickelte ein Handtuch um meinen nassen Körper. Ohne mein Spiegelbild anzusehen, schlüpfte ich in meine Klamotten und band meine nassen Haare in einem Zopf zusammen.

Als ich kurze Zeit später das Esszimmer betrat, saß Myra am Tisch und sah mich lächelnd an. Ich glitt in den Stuhl ihr gegenüber und starrte auf meinen Teller.

Pfannkuchen mit Blaubeeren.

Ich mochte Pfannkuchen, doch als ich den ersten Bissen in meinen Mund schob, wurde mir übel.

"Ich kann nicht zur Schule gehen", murmelte ich, ohne sie anzusehen. "Ich bin krank."

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie mich durchdringend musterte. "Du siehst nicht krank aus." Sie stand auf und kam um den Tisch herum. Dann legte sie eine Hand an meine Stirn und ich zuckte zusammen. Sie beäugte mich kritisch. "Du hast einen Test heute, oder?"

Ich nickte stumm und sie lachte leise.

"Es wird schon nicht so schlimm werden. Englisch ist dein bestes Fach. Ich bin sicher, du wirst hervorragend abschneiden."

In diesem Moment betrat Alexander die Küche. Er trug einen dunklen Anzug und hielt eine Aktentasche in seiner Hand.

"Ich muss ins Büro", teilte er uns mit. Er umarmte und küsste seine Frau, dann blieb er neben mir stehen und beugte sich zu mir herunter. Er presste einen sanften Kuss auf meine Stirn, dann verließ er mit großen Schritten die Küche und ich starrte ihm schweigend hinterher.

Er war wie immer. Verhielt sich wie jeden Morgen.

Und meine Welt hatte sich für immer verändert.

Ebby Scarborough: BeginningsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt