Kapitel 2

54 4 8
                                    

Die Pausen konnten die Schüler des Sonnecker Internats für hilfsbedürftige Kinder auf dem Schulhof oder im Speisesaal, der auch als Aufenthaltsraum fungierte, verbringen. Lissy saß neben Sophia auf einer Bank auf dem Schulhof. Hinter dem alten Zaun, der das gesamte Schulgelände umgab, konnte man grasbedeckte Hügel und noch weiter hinten die Dächer Sonnecks erkennen. Sonneck war ein kleiner Ort, der von Viehwirtschaft lebte. Auf den Hügeln weideten dutzende Flauschlinge, die aussahen wie laufende Fellkugeln und Lissy etwa bis zu den Knien reichen würden. Flauschlinge aßen nicht nur Gras, sondern so gut wie alles, und ihr flauschiges Fell wuchs unheimlich schnell nach, sodass sie mehrmals im Monat geschoren werden konnten. In Sonneck wurde ihr Fell dann verarbeitet. Flauschlingmäntel waren unheimlich weich und kuschelig, Lissy hatte allerdings noch nie einen besessen. Wie auch, sie besaß nur das wenige Geld, das sie von der Schule für Schreibsachen und Kleidung bekam, und für mehr als das Nötigste reichte das auch nicht. In Sonneck gab es außerdem ein paar kleine Läden, in einem davon kauften die Schüler ihre Schreibsachen. Lissy fiel ein, dass sie auch noch etwas aus diesem Laden brauchte.
„Hey Sophia", sprach sie ihre Freundin an, „Gehst du heute Nachmittag mit mir nach Sonneck? Ich brauche eine neue Schreibfeder." „Klar doch", sagte Sophia. „Ich brauche auch noch ein paar Dinge. Ich hoffe nur, dass wir nicht allzu viel aufbekommen." „Wir haben Freitag. Also reicht es wenn wir morgen mit den Hausaufgaben anfangen", meinte Lissy. „Ja, schon", gab Sophia zu. „Aber ich mache die Hausaufgaben halt lieber so früh wie möglich." „Und ich so spät wie möglich", sagte Lissy.

Nach der Pause gingen sie die Treppe zum Klassenzimmer für angewandte Magie nach oben. Lissy wusste, dass Sophia dieses Fach nicht mochte. In fast allen Fächern konnte sie durch lernen gute Noten erreichen, in angewandte Magie jedoch nicht. Jeder Bewohner Sonnlingens konnte Magie nutzen. Sonnlingen bestand aus Magie. Doch Magie wirkte bei jedem anders. Die meisten Leute konnten mit Magie leichte Gegenstände wie zum Beispiel ein Blatt Papier schweben lassen und bewegen oder sogar einfache Verwandlungszauber ausüben, doch kaum jemand beherrschte kompliziertere Zauber. Die Art und Weise wie Magie wirkte, ließ sich nicht beschreiben. Man spürte es nur. Keiner der Schüler war ein besonderes begabter Zauberer. Starke Zauberer wurden meistens in alte Zaubererfamilien hineingeboren. Auch Lissy war nicht gerade begabt im Umgang mit Magie, aber Sophia hatte schon Probleme damit eine Feder schweben zu lassen.
Vor dem Klassenraum mussten sie nicht lange auf ihre Lehrerin warten. Schon bald war das unverwechselbare Klackern ihrer hohen Absätze zu hören und Frau Gelbstein kam den Flur entlang gelaufen. Sie war nicht nur die Lehrerin für angewandte Magie, sondern auch die Schulleiterin. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengebunden und sie trug ein weißes Kostüm, das sie noch strenger wirken ließ. Frau Gelbstein war im Unterricht oft genauso streng wie sie aussah, aber sie war auch eine gute Lehrerin, die gut erklären konnte. In angewandte Magie saß Lissy nicht neben Sophia sondern neben Dea, da Frau Gelbstein die Sitzordnung gelost hatte. Lissy hatte gerade erst ihre Sachen ausgepackt, als Frau Gelbstein auch schon mit dem Unterricht begann. „Heute werden wir die magischen Stärken durchnehmen." Lissy begann hastig sich Notizen zu machen. Frau Gelbstein erwartete von ihren Schülern unaufgefordert mitzuschreiben. „Jeder Zauberer hat eine Stärke, das heißt ein besonders Talent im Umgang mit einer bestimmten Art von Magie. Meine Stärke sind Verwandlungszauber. Die Stärke der Königin liegt bei Heilzaubern. Eure Aufgabe ist es eure Stärke zu finden. Ich erwarte nicht von euch, dass ihr dies heute oder morgen oder in einer Woche schafft. Viele große Zauberer haben Jahre gebraucht um ihre Stärke zu finden und manche finden sie auch nie. Besonders schwächeren Zauberern fällt es oft schwer ihre Stärke zu finden", erklärte sie mit einem entschuldigenden Blick. Natürlich, die Klasse bestand ausschließlich aus schwachen Zauberern. „Deshalb kann ich auch nicht von euch verlangen, dass ihr eure Stärke sofort findet. Aber ich möchte, dass ihr danach Ausschau haltet. Glaubt einer von euch seine Stärke schon gefunden zu haben?", fragte Frau Gelbstein die Klasse. Nur eine einzige Person hob zögerlich ihre Hand. Bei dieser Person handelte es sich um Flora Elfenglöckchen. Flora war ein Blumenmensch, das waren Menschen, die zum Teil Blumen waren, manche mehr und manche weniger. Floras Kleid sah aus wie die Blume, nach der sie benannt war. Ein enges, grünes Oberteil und ein glockenförmiger weißer Rock. Diese blütengleiche Kleidung war bei Blumenmenschen normal, manche hatten allerdings auch grüne Haut und Blätter anstatt Haaren. Floras Haut sah ganz normal aus und durch ihre braunen Haare wanden sich nur einzelne Ranken. Blumenmenschen lebten genauso wie normale Menschen auch. Es gab viele von ihnen in Sonnlingen.
Sowohl Frau Gelbstein als auch die Klasse betrachteten Flora neugierig. „Ja Flora?", sprach Frau Gelbstein die Schülerin an. Flora sah nervös aus. Sie war sehr schüchtern und stand nicht gerne im Mittelpunkt. „Ich glaube meine Stärke sind Pflanzenzauber", sagte sie schnell. „Als wir letzte Woche das Wachstum der Rosen beschleunigen sollten habe ich es als erstes geschafft." „Sehr gut, Flora", lobte Frau Gelbstein sie, woraufhin Flora leicht rot wurde. „Die Stärke der meisten Blumenmenschen liegt im Umgang mit Pflanzen, da sie einfach eine sehr starke Bindung zueinander haben. Deine Stärke ist also nicht weiter überraschend, aber trotzdem freut es mich zu hören, dass du sie schon herausgefunden hast", endete Frau Gelbstein. „Glaubt sonst noch jemand seine Stärke schon gefunden zu haben?", fragte die Lehrerin. Niemand meldete sich. Frau Gelbstein hatte wohl mit nichts anderem gerechnet, denn sie sagte jetzt: „Wir werden jetzt erstmal mit dem Thema abschließen, aber wer glaubt seine magische Stärke gefunden zu haben gibt mir sofort Bescheid. Die restliche Stunde werden wir nutzen um Lichterzauber zu wiederholen und zu üben. Ihr arbeitet heute mit euren Tischnachbarn zusammen. Führt euch gegenseitig den Zauber vor und sagt dem Anderen, wie er sich verbessern kann."

Das konnte sie nicht ernst meinen, es war schließlich schlimm genug neben Dea zu sitzen... Und jetzt sollte Lissy mit ihr zusammenarbeiten.
Dea grinste sie hämisch an. „Willst du nicht anfangen, Melissa?" Lissy verzog das Gesicht. Sie hasste es, mit ihrem vollem Namen angesprochen zu werden. Dea schien das zu wissen, denn immer wenn sie mit ihr redete, sprach sie Lissy so an und betonte den Namen dabei auch noch. Lissy wusste nicht, was Dea gegen sie hatte, denn Lissy hatte ihr nie einen Grund gegeben sie zu hassen, doch aus irgendeinem Grund tat Dea anscheinend genau dies. Dabei war Deas Vergangenheit genauso schlecht verlaufen wie Lissys, auch sie war ein Waisenkind. Lissy nahm an, dass manche Menschen, wie Sophia, sich besser fühlten wenn sie anderen helfen konnten und Menschen wie Dea fühlten sich besser wenn sie anderen das Leben schwer machen konnten. Als ob es ihnen helfen würde, wenn es anderen genauso schlecht ging wie ihnen selbst. Und Lissy ging es ja sowieso nicht besser als Dea. Am liebsten hätte Lissy einfach Abstand von Menschen wie Dea gehalten, aber wenn sie mit Dea zusammenarbeiten musste ging das wohl schlecht.
Seufzend begann Lissy mit der Aufgabe. Sie schloss die Augen, stellte sich dabei aber vor ihrem inneren Auge weiterhin den Klassenraum vor. Als nächstes stellte sie sich eine leuchtende Kugel vor, die über dem Tisch schwebte. Jetzt musste sie ihre Vorstellung nur noch loslassen um den Zauber auszuüben. Lissy öffnete die Augen und tatsächlich schwebte über ihrem Tisch eine etwa faustgroße Leuchtkugel. Die Kugel strahlte in demselben dunklen Violett wie Lissys Augen. Triumpierend sah sie zu Dea, da ihr der Zauber so schnell gelungen war. Doch Dea schaute nur verächtlich zurück. „Also wirklich", sagte sie. „Eine Leuchtkugel in einer dunklen Farbe. Was soll das denn bringen? Ich glaube ich muss dir zeigen, wie man es richtig macht." Dea schloss kurz die Augen und neben ihr erschien eine hellblau leuchtende Kugel. Neben Lissys violetter Kugel sah das Blau nur noch viel heller aus. Das machte Lissy wütend. Die Farbe, in der sich seine Magie zeigte, konnte ein Zauberer nicht beeinflussen. Meist war es die Augenfarbe. Dea sah übrigens mit ihren wässrig blauen Augen und den strähnigen braunen Haaren genauso scheußlich aus wie sie sich benahm.
Lissy kniff die Augen zusammen. Sie würde Dea, dieser Angeberin, schon zeigen, dass sie genauso gut zaubern konnte wie sie. Sie konzentrierte sich auf ihre Leuchtkugel und stellte sich vor, wie sie immer heller wurde. Sie sah das violette Leuchten förmlich vor sich, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Sie konzentrierte sich auf ihre Wut auf Dea und stellte sich vor, wie die Kugel noch heller wurde.
Ihr wurde erst dann bewusst, dass es völlig still um sie herum geworden war, als die Stille von lauten Rufen beendet wurde: „Aua, meine Augen!“; „Ich sehe nichts mehr!“, und dazu auch noch erschrockene Schreie. Irritiert öffnete Lissy die Augen, kniff sie dann aber sofort wieder geblendet zusammen, so stark war das violette Licht. Ihre Konzentration brach ab und sie spürte, wie der Zauber abrupt beendet wurde. Vorsichtig öffnete sie erneut die Augen. Das violette Licht war verschwunden. Lissy sah sich verwirrt im Raum um. Ihre Mitschüler rieben sich die Augen und schrien wild durcheinander. Die einzige, die Lissy verstehen konnte war Dea, da diese direkt neben ihr saß. „Ich kann nichts sehen!“, kreischte sie ängstlich, und obwohl sie die Augen panisch aufgerissen hatte, schien sie wirklich nichts sehen zu können. War Lissy das etwa gewesen? Hatte sie ihre Kugel so hell leuchten lassen, dass sie die Anderen geblendet hatte? Aber wie, dazu hätte sie eine viel stärkere Zauberin sein müssen. Frau Gelbstein, die anscheinend noch sehen konnte, schrie Lissy an: „Melissa, wie konntest du nur so verantwortungslos mit deiner Magie umgehen? Du solltest sie mittlerweile besser kontrollieren können! Deine Mitschüler könnten ernste Schäden davongetragen haben! Und das ist deine Schuld!“ So wütend hatte Lissy die Schulleiterin noch nie erlebt. Aber sie hatte ja Recht. Lissy hatte ihren Klassenkameraden geschadet. Sie hatte ihrer besten Freundin Sophia geschadet. Was wenn ihre Klassenkameraden jetzt nie wieder sehen können würden? Lissy redete sich ein, dass ihr Zauber dazu nicht stark genug gewesen war, sonst wäre auch Lissy durch ihre geschlossenen Augen geblendet worden. Aber Lissy war sich nicht sicher ob das auch stimmte. Vielleicht könnten ihre Klassenkameraden jetzt wirklich nie wieder etwas sehen. Wegen Lissy. Ihr entwisch ein Schluchzen.
Und das Alles nur weil Dea sie so wütend gemacht hatte. Aber trotzdem hatte Lissy sie nicht verletzen wollen und die Anderen schon gar nicht. Lissy brach in Tränen aus. Wie hatte das nur passieren können? Lissy stürzte aus dem Raum und lief davon.

Vielen Dank fürs Lesen, ich wollte nochmal sagen, dass ich mich wirklich sehr über Kommentare freuen würde, ich möchte sehr gerne wissen, wie ihr meine Geschichte findet.

Der DunkelwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt