16.12.2018 - #FREIHEITSSINN

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River - Joni Mitchell
✩✩✩

Liebe Mrs. Perfect,

wie frei sind wir wirklich? Theoretisch wache ich jeden Tag auf und könnte nahezu alles machen. Ob ich das wirklich tue, ist eine andere Sache. Meistens sind es all die anderen Tugenden, die mich davon abhalten.

Vielleicht meint es aber auch etwas ganz anderes. Frei kann man sich auf so viele unterschiedliche Weisen fühlen. Andererseits, manchmal tun Leute all die Dinge, die sie wollen, und fühlen sich trotzdem nicht frei.

Möglicherweise liegt der Trick darin, das Gefühl von Freiheit einfach zuzulassen. Ich habe es heute mal versucht. Es hat mich irgendwie an das Gefühl erinnert, das ich spürte, als wir nachts zusammen auf der Straße lagen. Denkst du, in dem Moment waren wir frei?

Sean, xo.

✩✩✩

Als ich am nächsten Morgen meine Tür entriegelte, wäre ich fast aus allen Wolken gefallen, als ich drei Matratzen auf dem Fußboden liegen sah, auf der sich jeweils drei Gäste gequetscht hatten. Zach war anscheinend nach Hause gefahren, aber Sam und Barbara teilten sich immer noch schlafend eine Matratze. Ihre Matratze war als einzige nur von den beiden besetzt. Ricardos Gäste mussten sich jeweils zu dritt eine Matratze teilen. Glücklicherweise war Tyler nicht unter ihnen.

Wie sich herausstellte, hatte ich mich zu früh gefreut. Als ich mir meine tägliche Ration Kaffee kochen wollte, sah ich seine grinsende Fresse an unserem Küchentisch sitzen. Bediente er sich da gerade an meinem Kaffee?

Jetzt besaß er tatsächlich die Dreistigkeit mir »Guten Morgen« zuzuflüstern. Natürlich ignorierte ich ihn, auch wenn ich aufgrund des Kaffees dieses Mal nicht Hals über Kopf die Flucht ergriff. »Fandest du dein Verhalten gestern nicht etwas kindisch?«

Darauf konnte ich definitiv nicht antworten, ohne die Beherrschung zu verlieren und alle anderen zu wecken. Also formte ich nur die Worte ›Idiot‹. Diese Bezeichnung war eigentlich nicht passend für jemanden wie Tyler, aber für alle anderen Begriffe hätten sie mich eingesperrt.

Er hatte wieder dieses dämliche Grinsen aufgelegt, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. Eine Weile betrachtete er nachdenklich meinen finsteren Blick. Schließlich erlangten seine Augen die Dunkelheit zurück, die ich von ihm gewöhnt war. »Du hättest mir zumindest eine Chance geben können. Ich bin ein vollkommen anderer Mensch, als ich es noch auf der Highschool war.«

Es half nichts. Die folgenden Worte mussten einfach raus. Ich zischte sie so heraus, als spielte ich gerade die Rolle einer Schlange. »Wärst du wirklich ein besserer Mensch, dann würdest du dich an ihren Namen erinnern. Du würdest Reue empfinden für all die Dinge, die du ihr angetan hast.«

Er seufzte genervt auf. »Ich bereue, was ich Abigail damals angetan habe. Aber ihren Namen habe ich extra falsch gesagt, um dich zu provozieren. Denn deine süße Abigail ist längst nicht so perfekt, wie du immer denkst. Im Grunde war sie sogar kein Deut besser als ich oder ist dir vor lauter Liebe gar nicht aufgefallen, dass sie andere mit ihren Worten ebenso kränkte? Joshua trauert immer noch um sein Salamibrot.«

Versuchte er Abi gerade wirklich als Täterin darzustellen? Alles, was sie je tat, war sich zu wehren. Das machte sie höchstens stark, aber auf keinen Fall zum Täter! Allerdings war ich nicht länger im Stande mit Tyler zu diskutieren. Schnell trank ich meinen Kaffee leer, um endlich unser Appartement zu verlassen.

Die kalte Winterluft, die mir draußen um die Nase brauste, fühlte sich befreiend an. Am liebsten hätte ich all meinen Frust in die Welt geschrien. Ich war so begeistert von der Idee, dass ich rechts abbog. Ein paar Straßen weiter gab es eine Gasse, wo sich kaum jemand blicken ließ. Hier rauchte ich auch ab und zu ganz gerne meine Zigaretten.

Bevor ich allerdings mein Ziel erreichen konnte, hörte ich wie jemand meinen Namen rief. Meine Füße verharrten in ihrer Bewegung, sodass ich nun hinter mir Schritte vernehmen konnte. Ich ahnte bereits, wem ich die Stimme zuordnen konnte.

»Ich nehme an, du hast gerade alles mit angehört?«, fragte ich und drehte mich zu Barbara um.

Sie sah mich entschuldigend an. »Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen.«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Im Prinzip war es mir völlig egal, was sie gehört hatte. »Ihr scheint ja gestern noch ziemlich Spaß gehabt zu haben, wenn ihr nicht mal den Weg nach Hause gefunden habt.«

Barbara zuckte zusammen. »Ricardo meinte, wir könnten-«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch ich unterbrach sie. »Ich habe kein Problem damit, dass du oder Sam bei uns übernachtet habt. Es geht mir eher um den Idioten, der gerade meinen Kaffee leer trinkt.«

Ihr Blick senkte sich. Ich vermutete Mitleid in ihren Augen zu erkennen. »Keine Ahnung, was zwischen euch beiden vorgefallen ist. Ich wollte dir nur wissen lassen, dass ich gestern Abend wirklich das Gefühl hatte, als wäre Tyler inzwischen ein netter Kerl.«

»Ich will aber nicht, dass er jetzt ein besserer Kerl ist!« Die Wut in mir kochte über. »Mein Leben lang habe ich gehofft, dass Leute wie Tyler es zu nichts im Leben bringen — dass die Gerechtigkeit letztlich siegt. Jetzt mit Ansehen zu müssen, wie er studiert und sein Leben nur noch bergauf geht, ist einfach nicht fair! Vermutlich sollte ich ihm verzeihen, nur kann ich es nicht.«

Erst jetzt fiel mir auf, wie gerötet ihre Augen waren. In ihren Schuhen stand sie nur halb drinnen. Auch die Jacke hatte sie nicht mehr richtig zu gekriegt. Die Arme hatte sie sich vor der Brust verschränkt, vermutlich da es sonst zu kalt gewesen wäre. »Du musst ihm ja nicht verzeihen. Nicht alle Dinge sind verzeihlich und Gerechtigkeit existiert nicht.«

Wieder schaffte sie es, genau die Worte auszusprechen, die ich hören wollte. Meine Mundwinkel hoben sich. »Danke für die Info. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich plane der sogenannten Gerechtigkeit ins Gesicht zu schreien.«

Sie schloss zu mir auf. »Klingt vielversprechend. Ich wäre dabei.«

»Der Ort, an den wir dazu gehen müssen, ist allerdings Top Secret. Ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl, als dir jetzt die Augen zu zuhalten.« Mit dieser Vorwarnung legte ich meine Hände auf ihr Gesicht, das sich ziemlich kalt anfühlte.

Während wir so langsam vorwärts schritten, spürte ich das Herz in ihrer Brust laut schlagen. Ich spielte schon mit dem Gedanken, meine Hände von ihren Augen zu nehmen, wenn die Dunkelheit ihr solche Angst einjagte. Zumindest hätte ich sie ganz fest an mich gezogen, um sie zu beruhigen. Wäre der Weg nicht so kurz, dann hätte ich das wirklich getan.

Als wir unser Ziel erreichten, drehte ich sie zunächst vorsichtig zu mir um, bevor ich meine Hände entfernte. Unsere Blicke trafen sich und auf seltsame Weise ging es in meinem Magen plötzlich ziemlich verrückt zu — als würden irgendwelche Männchen dort auf und ab springen. Schnell wand ich den Blick ab.

»Auf drei?«, fragte ich sie schließlich. Mein Rücken hatte ich gegen die Steinmauer gedrückt. Die Gasse war nämlich so eng, dass zwei Personen nur dann Platz nebeneinander hatten, wenn sie sich gegenseitig zerquetschten.

Zuvor war es noch nie vorgekommen, dass mich die Nähe zu dem anderen Geschlecht so nervös machte. Aus diesem Grund wollte ich den Abstand zwischen uns so groß wie möglich halten.

Sie nickte und stieg in den Countdown mit ein: »Drei, zwei, eins...« Im nächsten Augenblick gaben wir alles, als würde unser Leben von diesem Schrei abhängen. Irgendwann fing Barbara an, während des Schreiens die Gasse auf und ab zu laufen. Dabei fuhr sie mit ihren Hände die Mauer entlang. Sie wirkte plötzlich so unbeschwert. Spontan tat ich es ihr gleich und rannte los.

Doch dann drehte sie sich um, um zurück zu rennen. Ihr Schrei verfiel nun in Gelächter, als wir aufeinander zu rannten und unsere Schritte verlangsamen mussten. »Das tat gut.« Eigentlich wollte ich ihr zustimmen, doch etwas hinderte mich daran. Vielleicht war es die Tatsache, dass mir schlagartig bewusst wurde, dass Sams Mitbewohnerin Barbara das größte Mysterium in meinem Leben war. Irgendwie gefiel mir das gar nicht.

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Bei wem hat es heute noch den ersten liegenbleibenden Schnee gegeben? 😍❄️

Dear Mrs. Perfect Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt