Capitolo 1

680 31 12
                                    


_________

Schweigend drehte ich meine Kippe zwischen den Fingern hin und her und lauschte der Musik, die durch meine Kopfhörer in mein Gehirn strömte.
Ich beobachtete wie die Glut beinahe schon den Filter erreichte und nahm schnell noch einen tiefen Zug bevor ich sie auf dem Boden ausdrückte.

Morgen würde es soweit sein.

Zitternd vor Kälte zog ich die Kaputze meines dünnen Pullis über und ließ mich an der Wand herunter langsam auf den Boden sinken.

Mein Bruder würde aus der Untersuchungshaft entlassen werden.
Nicht genügend Beweise, sagen sie.
Und haben damit quasi mein Todesurteil unterschrieben.

Normalerweise dachte ich in dem Moment, als ich die Nachricht erhielt, ich würde vor lauter Angst sterben oder anfangen zu weinen, aber nichts dergleichen passierte mit mir. Ich lief einfach los. Rannte. So schnell ich konnte. Steckte all meine Kraft in diesen Vorgang. Alles flog an mir vorbei, verschwamm, wurde zu einem einzigen Strudel, dem ich nicht entkommen konnte.

Ich fühlte mich leer. Er würde es immer wieder tun. Ich wusste es. Und deshalb fiel mir meine nächste Entscheidung leicht.

Bei jedem Streit hatte ich darüber nachgedacht, nach jedem Schlag bei dem ich die Gravitationswellen des Aufpralls wie in Zeitlupe wahrnahm, nach jedem Blick in seine spöttischen stechenden Augen. Nach jedem Duschen, wo ich probierte all den Schmerz, all die Panik, allen Ekel und all die Erinnerungen abzuwaschen. Nach jedem Gedanken der Hoffnung, es würde jemals besser werden.
Aber das würde es nicht.
Niemals.

Wo war ich hier überhaupt? Sah nach einer der Straßen abseits von der Fußgängerzone aus.
Es herrschten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.
Aber es war mir egal. Und meinen Eltern. Und jedem anderen auch.
Sie würden mich nicht finden, und wenn sie es taten, wäre ich schon längst erfroren. Bei dem Gedanken musste ich trotz der klirrenden Kälte lächeln.

Ich hatte keine Angst vorm Tod. Ich sah ihn so wie er war. Das Ende von allem was jemals existierte. Mir.
Ich schloss meine Augen. Spürte, wie erst meine Hände und Füße, dann Beine und Arme ihr Zittern aufgaben und taub wurden.

Wie meine Lider sich nicht mehr öffnen wollten und sich die Eiseskälte in mein Herz fraß.

- - - - - - - - -

„Fuck... Hey du! Hörst du mich? Bist du wach?", vernahm ich undeutlich eine dumpfe Männerstimme.
Ich spürte wie zwei Hände meine Schultern umfassten und die Stimme ertönte nun direkt über meinem Gesicht.

„Kannst du deine Augen aufmachen?" Ich antwortete nicht und sackte wieder weg, bis ich ein schmerzhaftes Reiben auf meinem Brustbein spürte und schlagartig meine Augen öffnete. Autsch.
Ein junger Mann kniete neben mir und umfasste mit zwei Fingern mein Handgelenk.

„Alles okay bei dir?", er blickte mich besorgt an. „Hmpf.", gab ich undeutlich von mir.
„Weißt du was passiert ist?", fragte er mich erstaunlich gefasst. Diesmal gab ich ein deutlicheres „Ja." von mir, fing aber fast augenblicklich an zu zittern. Wie lange lag ich jetzt hier? Warum war ich noch nicht tot?

„Scheiße ey, du bist eiskalt, was machst du denn allein hier draußen? Bist du ausgerutscht oder so was? Hier.", er zog den Reißverschluss seiner Sporttasche auf und holte ein knisterndes Viereck Goldfolie oder so raus, faltete es auf und legte mir die entstandene Decke fürsorglich über meine Schultern.
„Das ist eine Wärmedecke. Vielseitig einsetzbar und sehr wichtig. Habe ich immer dabei, weiß man als Notarzt doch genau wie unvorhersehbar Unfälle passieren können.", lächelte er, wurde aber sofort wieder ernst.

„Ich glaub ich rufe dir mal flott einen RTW, damit man dich direkt mit ein paar warmen Infusionen versorgen kann, okay?"
Als ich seine Worte begriff, schüttelte ich langsam den Kopf. „No. Nicht ins Krankenhaus, bitte.", flüsterte ich. Ein Notarzt direkt vor mir reichte schon, welcher mich jetzt auch nachdenklich anschaute.

„Mit einer Unterkühlung ist wirklich nicht zu spaßen, du gehört in eine Klinik, tut mir leid. Wie heißt du überhaupt?"

„Noah.", erwiderte ich leise.
Der Mann mit den dunklen Locken schaute mich freundlich an.

„Hi Noah, ich bin Phil."

___________

UND MORGEN FRÜH BIN ICH TOT.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt