Als man Lillith vor einigen Stunden am vereinbarten Treffpunkt eingesammelt hatte wussten sie natürlich schon von ihrem Versagen Bescheid. Nach der wiedermal unnötig langen Fahrt im selben schwarz befensterten Van hatte eine der Wachen ihr die Uhr abgenommen und Lillith auf ihr Zimmer gebracht. Das war nicht weiter auffällig, bis er im Türrahmen stehengeblieben war und ihr regunglos mitteilte, dass man sie in vier Stunden wieder abholen würde. Danach hatte er auf dem Absatz kehrt gemacht, die oberschenkelbreite Stahltür von außen verriegelt und eine Lillith allein mit ihren Gedanken zurückgelassen.
Sie war mutlos in der hintersten Bettecke zusammengesunken und hatte jegliches Zeitgefühl verloren, während sie die gegenüberliegende kahle Wand anstarrte und verzweifelt versuchte jegliche Gedanken von sich zu schieben. Um sich abzulenken sah sie sich um. Der Anblick war ihr altbekannt, da er sich seit Jahren nicht ein einziges Mal verändert hatte. Lillith verbrachte zumeist die Hälfte eines Tages in diesem kahlen Zimmer, während sie die andere Hälfte trainiert wurde oder- Schnell brach sie den Gedanken ab und sah sich weiter in dem Zimmer um. Okay zugegeben, man konnte ihr Zimmer nicht wirklich Zimmer nennen. Mit seinen drei Metern Breite und Länge glich es eher einem weißen Schuhkarton in das ein Bett und eine Toilette mit Waschbecken hineingequetscht worden waren. Alles war aus massivstem grauen Stahl, in die Wand eingelassen und überall abgerundet. Es gab keine einzige scharfe Kante. Zudem war alles so verankert verbaut worden, weshalb es keine Chance gab die Möbel zu verrücken oder gar auseinanderzubauen. Es gab keine Fenster oder Regale, keinen Stuhl oder Tisch, nur eine über der Tür eingelassene LED-Lampe, zu der sie keinen Zugang oder Lichtschalter hatte, da sie hinter (gefühlt) meterdickem Panzerglas steckte. Selbst Lillith konnte keine Risse in diesem Glas verursachen, so viel sie auch schon darauf eingeprügelt hatte. Sie würden doch nicht ihr geliebtes Experiment wegen ein paar Scherben verlieren! Innerhalb des geheimen MA-HAU Projekts, auch Hau-Project genannt, war Nummer XII, Codename "Monster", bisher das vielversprechendste und somit erfolgreichste Experiment der gesamten Einrichtung. Dementsprechend kam ihr besonders viel Aufmerksamkeit und 'Fürsorge' zuteil. Lillith erschauerte. Sie wollte nicht schon wieder in den grell beleuchteten Raum zurück. Erst letzte Woche war sie dort gewesen.
Der nächste Gedanke blieb ihr erspart als forsche Schritte vor der Tür sie zusammenzucken ließen. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Sechs Wachmänner kamen vor der Tür zum Vorschein und schienen anders zu sein als jene, mit denen sie auf ihren Einsätzen zu tun hatte. Sie schienen... so leer. Und zwar auf eine andere Weise als Lillith es war. Ihre Seele lag in Scherben, da sie wieder und wieder und wieder aus ihren Gefühlen gelernt hatte, dass sie ausnahmslos Schmerzen als Folge hatten. Sie war regelrecht darauf konditioniert bei jedwegen Gefühlsregungen abzuschalten, einfach aus Selbstschutz vor den Konsequenzen. Ein kühler Kopf machte erfahrungsgemäß weniger Fehler. Diese Männer hingegen schienen überhaupt nicht in der Lage zu sein, Gefühle zu entwickeln. Es war als wäre keine Seele zu Hause und gähnende Leere an der Stelle an der eigentlich ein Herz sitzen müsste. Denn ein Herz hatte Lillith definitiv noch. Viel zu oft schmerzte es.Lillith glitt langsam vom Bett und stand auf. Sie hasste diesen Moment. Finster sah sie den Männern entgegen, die ihr bewegungslos gegenüber standen. Jedes Mal holten sie sie und unzählige Male hatte sie schon versucht dem zu entgehen. Vergebens. Selbst ihr Anzug, den sie immer noch anhatte, brachte ihr nichts. Nach einiger Zeit hatte sie es dann gelassen, weil es eh nur mehr Schmerzen bedeutete. Mittlerweile ging sie schon 'freiwillig' mit ihnen mit, jedoch schrie eine Stimme tief in ihrem Inneren jedes verfluchte Mal panisch um Hilfe. Egal wie tief sie sie in sich begrub, die Stimme fand in solchen Situationen immer einen Weg sich bemerkbar zu machen. Langsam ging sie auf die Männer zu. Es gab keinen Ausweg, kein Entrinnen. Mit gesenktem Kopf trat sie aus ihrem Zimmer hinaus, die Wachmänner formten einen Ring aus weißen Anzügen und geleiteten sie so ihrem lebendig gewordenem Albtraum entgegen.
Sie war bei Bewusstsein, während an ihr herumgewerkelt und geschnitten wurde. Sie hörte, wie Knochen gebrochen und wieder zusammengesetzt wurden, wie Dinge aus ihr herausgeschnitten und in sie hineinimplantiert wurden, wie Muskel und Haut und Organe und unzählige andere Körperteile zusammengesetzt, zerissen und wieder zusammengesetzt wurden. Und das Schlimmste an allem? Sie fühlte es auch.
Lillith konnte nicht einen Millimeter ihres Körpers bewegen, und war somit hilflos ausgeliefert, während sie auf dem kalten Metalltisch in der Mitte des grellweißen Raumes lag. Wie immer hatten sie ihr eine Droge verabreicht, welche ihr die gesamte Kontrolle über ihren Körper nahm. Jedoch ließ dieser Wirkstoff sie bei vollstem Bewusstsein und nahm zudem nur die äußerste Spitze des Schmerzes um zu verhindern, dass sie ständig ohnmächtig wurde und alles immer wieder unterbrochen werden musste. Sie hassten das. Somit war Lillith in dem schlimmstem aller Albträume gefangen.
Immer wieder legten sie Pausen ein um sie nicht gänzlich an die Schwärze zu verlieren, welche Lillith aber mit offenen Armen empfangen hätte. Später, wenn sie vor Schmerzen und Erschöpfung letztendlich doch in die Bewusstlosigkeit abdriftete, legten sie sie für einige Stunden in ein künstliches Koma. Dies war genau so schlimm wie die Droge, nur ohne den Schmerz. Da ihre Regenerationszeit jedoch deutlich kürzer war als die eines Menschen - sogar eines Engels - währte ihre kurze Pause nicht lange und sie konnten schon kurz darauf wieder weiter an ihr herumwerkeln. Dieser Kreis wiederholte sich bis sie genügend Daten gesammelt hatten und sich zum Analysieren zurückzogen und Lillith dadurch, nach einer kurzen Erholung, dem Training überließen. Training, welches aus normaler Bildung bestand und zusätzlich für alle Eventualitäten des Assassinendaseins vorbereitete. Stealth, Musik, Attentat, Tanz, Waffenkunst, Kultur, Gifte, Sprache, Ent-/Fesselung, die Liste war lang. Und all das ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Lillith hatte schon häufig überlegt ob es weitere Insassen in dieser Einrichtung gab die genauso ausgebildet wurden wie sie. Jedoch gab es außer ihrer Nummer und einer zitronengelben Feder, die sie einmal auf einem ihrer Wege zum weißen Raum gesehen hatte, kein weiteres Inditz, welches sie in ihrer Annahme bestätigte. Es wurde kein Wort darüber verloren. Jede Person mit der sie sprach, wenn sie denn dann sprach oder überhaupt sprechen konnten, war entweder so gut gebrieft worden nichts preiszugeben, dass selbst Lillith nichts aus ihnen herausquetschen konnte, oder die Personen hatten schlichtweg keine Ahnung.Generell hatte Lillith kaum Kontakt zu Menschen. Sie lebte isoliert und versteckt. Lillith fühlte sich, als würde sie, der kleine Engel mit den kitzbraunen Flügeln und weißen Sprenkeln, immer mehr verblassen und zu dem Frankensteinmonster werden, was sie aus ihr zu machen versuchten. Die Erinnerungen an ihre Eltern verblichen von Tag zu Tag mehr. Kaum noch konnte sie das Gesicht ihrer Mutter erkennen, wie sie ihre Tochter liebevoll 'Bambi' nannte, oder die bunten Lichter, die ihr Vater mit lachenden Augen erzeugte wenn ihr die Dunkelheit mal wieder zu vollkommen schien. Dennoch, selbst verschwommen und verblasst schmerzten diese Erinnerungen Lillith. Umso deutlicher hatte sie gespürt, wie sie nach und nach sich von sich selbst und ihren Werten und Normen entfernte. Abgestumpft tat sie was man ihr befahl, ohne darüber nachzudenken. Jedenfalls war es der Gedanke sie das glauben zu lassen. Aber wofür? Sie glaubte ja nicht mal selber daran. Ist ja nicht so als würde sie irgendjemand vermissen. Alle waren tot, bis auf ein verängstigtes kleines Mädchen, dessen Locken und Flügel man genommen hatte und so lange für unzählige unaussprechliche Experimente benutzt hatte, bis es jegliche Farbe verlor. Übrig blieb eine Hülle der Emotionslosigkeit, welche nichts mehr mit dem kleinen jauchzenden Bambimädchen gemein hatte, verzehrt durch gähnende Leere und ohrenbetäubender Stille.
Blind sah Lillith an die Decke des grellweißen Raumes und ließ die Prozeduren über sich ergehen.
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Midnight Whispers
FantasyAuf der Flucht vor einer geheimen Forschungseinrichtung trifft Lillith, eine verschlossene High-Class Assassine, per Zufall auf den freiheitsliebenden und von sich selbst überzeugten Keiran. Keiran, mit den Sternenhimmelflügeln. Vom ersten Moment an...