Erinnerung

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Als sie wieder zu Bewusstsein kam spürte Lillith, wie sie auf ihrer eigenen dünnen Matratze lag. Sie roch den leicht muffigen Geruch ihres kleinen fensterlosen Zimmers. Sie hatte es überstanden. Mal wieder. Jedes Mal war sie erstaunt wie sie das zustande brachte. Lillith versuchte die Augen zu öffnen, doch ein ziehender Schmerz durchzuckte ihren Kopf, dass sie es schnell sein ließ. Generell konnte sie sich nicht wirklich bewegen. Sie fühlte sich wund, kraftlos und ausgelaugt. Bei dem Versuch ihre liegende Position zu verändern stöhnte sie auf. Ihr ganzer Körper brannte. Überhaupt jede Zelle in ihr brannte. Sie wusste nicht was sie mit ihr getan hatten nachdem sie bewusstlos geworden war. Sie wusste nur, dass sie froh darüber war es nicht aktiv miterlebt zu haben. Jetzt fühlte es sich an als würde Feuer durch ihre Adern fließen und sie von Innen heraus verbrennen. Lange nicht mehr hatte sie sich so schlecht gefühlt. Ihre Regeneration behob zumeist schnell den Schaden. Doch irgendwie schien diese Kraft zur Zeit gehemmt. Sie drehte sich unter Qualen auf die Seite und rollte sich ein, die Augen immer noch geschlossen. Bewegungslos blieb sie so einige Zeit liegen und konnte nicht anders als sich allein zu fühlen. Sie hatte niemanden. Sie war zu erschöpft und zerbrochen um jetzt noch ihre Emotionen unter Kontrolle zu behalten. Also ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und öffnete sich selbst ihrem Herzen, während leise Tränen ihre Wangen hinunterrannen. Sie ließ los.

Zuerst spürte sie nur verzweifelte Einsamkeit. Sie saß so tief, dass Lillith fast angefangen hätte zu schreien um ihrem inneren Schmerz Luft zu machen. Sie war so gottverdammt unendlich einsam. Seit Ewigkeiten hatte sie schon kein freundliches Gesicht mehr gesehen oder überhaupt Kontakt zu einer normalen Person gehabt. Sie hatte keine Freunde, es sei denn man zählte ihr eigenes Spiegelbild mit dem sie manchmal klammheimlich Zwiegespräche führte. Sie tat dies um einfach Zeit in der sie in dem Raum festsaß tot zu schlagen. Wie sehr sehnte sie sich nach Freunden. Eine Person mit der sie sich austauschen konnte. Normalität.
Je weiter sie in sich hineinblickte, desto mehr Emotionen kamen zum Vorschein. Alles unterdrückte Instinkte die Gehör verlangten. Als nächstes spürte sie Angst und wie verängstigt sie doch eigentlich war. Angst vor Ihnen. Angst vor dem Raum und dem Schmerz. Angst vor dem was man ihr antat, was sie lernte, was ihr Auftrag und ihre Bestimmung war. Sogar Angst vor ihren eigenen Emotionen! Vor allem aber hatte sie eine riesige Angst vor sich selbst. Sie erkannte sich gar nicht mehr wieder. Was machten sie nur aus ihr?! Wann wäre es endlich zu Ende? Wenn sie in den Spiegel sah, sah sie einen Engel ohne Flügel, ein bleichen Freak. Ein farbloses Monster. Sie schämte sich zutiefst über alle ihre schrecklichen Taten. Mal ehrlich, sie machten sie häßlich und färbten ihre zersplitterte Seele schwarz. Niemand würde je etwas mit ihr, dem Monster, zu tun haben wollen. Niemand würde sie je gern haben oder gar lieben. Sie war ganz und gar auf sich allein gestellt. Lillith rollte sich fester zusammen. Ihre Emotionen überannten sie und sie wusste nicht wie sie mit ihnen umzugehen hatte. Zu lange schon hatte sie sie verdrängt.

Plötzlich schoss ihr ein ewig unterdrücktes Bild zweier fliegend tanzenden Engel in einem großen Raum durch den Kopf. Es war eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, bevor sie in die Forschungseinrichtung gekommen war. Damals hatte sie die Erinnerung tief in ihrem Herzen eingeschlossen, in dem Wissen, sie würde ewig währen. Natürlich kam sie genau jetzt zum Vorschein. Es war eine ihrer glücklichsten und sowohl schmerzhaftesten Erinnerungen überhaupt.

Damals hatte Lillith ihrer Mutter beim alljährlichen Hausputz geholfen. Es war schon später Nachmittag, die Herbstsonne stand schon tief und durchflutete das weite Wohnzimmer mit warmen Sonnenstrahlen. Sie hatten sich Musik angemacht, wodurch das gesamte Haus mit sanften Melodien durchflutet wurde. Sie waren schon fast fertig. Halb tanzend, halb fliegend huschte ihre Mutter mit einem Staubwedel von einem Raum zum anderen. Sie sah so graziös und elegant aus, wie sie trotz ihrer kleinen Statur ihre breiten Hüften im Rythmus kreisen ließ. Sie hatte die Augen dabei geschloss und ihre Arme bewegten sich langsam in der Luft. Verloren in der Musik drehte sie sich um die eigene Achse und schlug träge mit ihren braunen Flügel, was sie in der Drehung in die Luft hob. Ihr bronzener Heiligenschein, mit seinen weichen Kanten, sah aus wie schokoladige Wellen und trohnte etwa zwei Handbreiten über ihren braunen Lockenkopf. Alles an ihr war weich und flüssige Bewegung. Es sah atemberaubend schön aus.  Lillith erinnerte sich, wie sie in dem Moment wie angwurzelt in der Mitte des großen Wohnbereiches stehen geblieben war, Waschlappen in der Hand, und bewundernd und stolz zu ihrer tanzenden Mutter hinaufsah. Diese schien das Putzen vergessen zu haben, denn der Staubwedel, den sie bis vor Kurzem noch gehalten hatte, lag auf der anderen Seite des Raumes auf einer Anrichte. Lillith hatte sich neidisch gewünscht auch so graziös tanzen zu können. Es war als wäre ihre Mutter eins mit der Musik.
In jenem Moment war ihr Vater ins Zimmer getreten und selbst die kleine Lillith hatte damals erkennen können, wie sein Gesicht bei dem Anblick seiner Frau vor Liebe erstrahlte. Sein gehetzter Blick wurde weich. Er war zu ihr hinaufgeflogen, hatte sie in den Arm genommen und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Sein cremefarbender Heiligenschein, mit den zwei Zacken an je den äußeren Seiten, traf kurz auf ihren und sie verschmolzen, da sie trotz dem metallischen Aussehen letztendlich doch nur aus Licht bestanden und keine Materie besaßen. Seine Worte ließen ihre Mutter erröten, jedoch hörte diese nicht auf zu der Musik zu tanzen. Im Gegenteil, sie legte ihre linke Hand auf seine rechte Schulter und hielt die andere seitlich von sich, bis er die seine grinsend hineinlegte. Mit seinem freien Arm zog er sie an der Taille zu sich. Langsam schlugen beider Flügel und erzeugten genügend Auftrieb, während nun beide in der Luft mitten im Raum einen langsamen Walzer zu einem Rythmus tanzten, den nur sie zu hören schienen. Überall erstrahlten kleine Sonnen in der Luft. Ihr Vater ließ den Raum in den wärmsten Tönen leuchten. Lillith strahlte wie ein Honigkuchenpferd als sie hörte wie ihre Mutter verzückt auflachte. Sie sahen so überglücklich zusammen aus. Die Flügel ihrer Mutter glänzten wie flüssige Vollmilchschokolade, während die cremefarbenden ihres Vaters wie mit Smaragdpulver übersähte Perlen schillerten. Es war ein fantastischer Anblick. Beide bewegten sich mit fließenden Bewegungen und schienen ihr gegenüber in- und auswendig zu kennen. Keine Bewegung schien sie zu überraschen, sondern erlaubten ihnen die nächste zu erahnen. Man sah förmlich wie sich beide in diesem Moment fallen ließen und nichts außer ihrem Gegenüber sahen. Lillith wusste, sie würde diesen Moment niemals vergessen und schloss ihn als ihren kostbarsten Schatz in ihr junges Herz ein. So tanzten sie eine Weile in der Luft. Ihre Eltern schauten sich tief in die Augen und lösten sich kurz darauf von einander. Lächelnd drehten sich zu ihrer einzigen, jungen Tochter um und landeten mit raschelnden Flügeln vor ihr. Damals nahm ihre Mutter sie liebevoll in den Arm, hob sie hoch und lachte freudig auf als ihr Mann sich der Umarmung anschloss. Mit starken Armen umarmte er Lillith von der anderen Seite und umschloss seine Frau auf der anderen gleich mit. Somit war Lillith und ihr kleiner Heiligenschein, welcher zu gleichen Maßen aus Wellen und Zacken bestand und dadurch wie kleine Flammen aussah, zwischen den beiden eingefangen. Warme Schokolade und Perlen umhüllten Lillith und ließen sie sich geborgen und geliebt fühlen.
"Lou", hatte ihre Mutter auf einmal sehr ernst gesagt. "Lou, was auch immer passiert, vergiss niemals wie sehr dein Vater und ich dich lieben. Niemals. Versprich es mir. Du bist das wertvollste und wichtigste für uns auf der Welt und wir werden immer bei dir sein, sei es auch nur in deinem Herzen. Du bist niemals allein", sie musste hart schlucken, "Wir lieben dich wahrhaftig über Alles." Damals hatte Lillith es kurz mit der Angst zu tun bekommen, da ihre Mutter sonst nie so ernsthaft zu ihr sprach. Aber sie verstand wie wichtig es ihrer Mutter war, dass sie ihr dieses Versprechen gab. Also nickte sie, mit fester Entschlossenheit im Sinn dieses Versprechen niemals zu brechen, in die Arme ihrer Mutter und kuschelte sich näher an den warmen und soliden Brustkorb ihrer Vaters. Sie spürte wie jener seine Flügel fester um sie und seine Frau schloss, fast so als würde er versuchen alles Böse von ihnen ferhalten zu wollen. Es gab nur sie drei. Ihre kleine Familie. Für eine halbe Ewigkeit verharrten sie in dieser Umarmung. Als sie sich wieder lösten gab Lilliths Mutter ihrem Mann einen kurzen Kuss auf den Mund und sagte: "Nun da du ja schonmal da bist kannst du uns auch gleich beim Putzen helfen." Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus und die Ernsthaftigkeit war wie weggewaschen. Grübchen, die Lillith geerbt hatte, formten sich in ihren Wangen. Ihr Vater lachte auf und nach einer kurzen Diskussion stand er mit einem Feudel im Flur. 

Lou, dachte Lillith. Der Klang ihres früheren Namens schmerzte viel mehr als sie erwartet hatte. Selbst nach all den Jahren hing sie immer noch an seinem weichen Klang und wünschte sich, dass sie ihr wenigstens dieses Stück ihrer Vergangenheit gelassen hätten. Sie war gleich am ersten Tag umbenannt worden. Nachdem sie in ein Zimmer geworfen worden war, in dem Lillith heute noch lebte, hatten sie sich ihr kurz vorgestellt und mitgeteilt, ihr alter Name würde hier keine Bedeutung mehr haben da er in der Vergangenheit lag. Ihr neuer Name würde von nun an Lillith sein. Auf die Frage hin, wo 'Hier' denn überhaupt sei, hatten sie sich nur auf ihre Hände in den Einweghandschuhen, welche man häufig im Labor antraf, geguckt und sich ausdruckslos zur Tür umgedreht. Ohne ein weiteres Wort ließen sie eine verängstigte Lillith in einem fremden Zimmer alleine. Von da an traf Lillith sie nur noch im grellweißem Raum an und entwickelte eine ernstzunehmende Phobie vor Latexhandschuhen.

Erneut versuchte Lillith die Augen zu öffnen. Dieses Mal gelang es ihr und unter leisem Stöhnen setzte sie sich auf. Sie traute sich noch nicht aufzustehen, also ließ sie ihren Kopf gegen die Zimmerwand sinken und schaute gen Decke. Die Erinnerung hatte etwas in ihr berührt. Soviel stand fest. Sie versuchte sich an diesem Gedanken festzuhalten und einzureden, ihre Seele sei noch nicht gänzlich schwarz. Immerhin war sie noch fähig zu fühlen.

Immerhin.

Midnight WhispersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt