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Ich rannte durch die Dunkelheit. Ich rannte und rannte, ohne mich auch nur ein Mal umzudrehen. Sie waren dicht hinter mir, das wusste ich.
Ich rannte immer weiter, bis ich keuchend stehen bleiben musste. Ich hatte sie abgehängt.

Jetzt erst hatte ich Zeit, mich richtig umzusehen.
Ich stand in einem Tal, das von einem Kreis aus riesigen Bäumen umringt war. Zwischen diesen Bäumen sah ich Schatten umherhuschen, Gestalten, die keine Menschen waren.
Ich beachtete sie nicht.

Es war totenstill, ich blickte zum sternenlosen Nachthimmel hinauf und fragte mich, wie ich von hier aus zurückfinden sollte. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich hier war!

Plötzlich fingen die Gestalten, die mich von den Bäumen aus beobachteten, an zu sprechen.
Wer bist du, zischten sie wie ein einziges Wesen.
Wer bist du? Immer und immer wieder.
Wer bist du?
E... Ella, stammelte ich ängstlich, unsicher, ob ich überhaupt antworten sollte.
Falsch, zischten die Wesen zurück.
Du bist nicht Ella. Das warst du noch nie!
Was redet ihr da, rief ich, plötzlich mutiger geworden. Um meine Aussage zu bekräftigen, fügte ich hinzu: Mein Name ist Ella Winterfeldt, ich bin 15 Jahre alt. Meine Eltern heißen Johanna und Michael. Ich habe einen Bruder namens Elias.
Ich wusste nicht, warum ich diesen Wesen das alles erzählte.
Falsch, alles falsch. Du hast keine Ahnung von deinem Leben, Kleine.
Du weißt gar nichts!
Auf einmal kamen die Gestalten auf mich zu, sie kreisten mich ein, sodass ich keine Chance hatte wegzulaufen.
In der Dunkelheit konnte ich nicht viel erkennen, nur gebeugte Körper mit langen Armen und vergleichsweise kurzen Beinen.
Sie kamen immer näher, umringten mich von allen Seiten, und begannen auf einmal zu kichern. Es war ein leises, boshaftes und schrecklich hohes Kichern wie das von Hexen.
Ich wich zurück, immer weiter, bis ich mit dem Rücken gegen etwas stieß. Erschrocken fuhr ich herum und erkannte, dass es eine weitere dieser Gestalten war, die jetzt nur noch wenige Meter von mir entfernt waren. Aus der Nähe konnte ich grüne Augen erkennen, die unheilvoll zu glühen schienen, und zu einem bösen Grinsen verzogene Münder, aus denen immer noch dieses grauenhafte Kichern kam.
Verzweifelt und voller Angst drehte ich mich um mich selbst, nach einem Ausweg suchend, doch den gab es nicht.
Mit einem schrillen Kreischen stürzten sie sich alle gleichzeitig auf mich.

◇◇◇

Ich schreckte schweißgebadet aus dem Schlaf. Ich wusste nicht mehr, was ich geträumt habe, nur dass es ein Albtraum gewesen war.
Schnell beruhigte ich mich wieder und merkte plötzlich, wie müde ich war. Es fühlte sich an, als hätte ich gar nicht geschlafen.

,,Ella, komm runter!"
Ich war schon fast wieder eingeschlafen, als die Stimme meiner Mutter mich auf einen Schlag hellwach machte. Aus irgendeinem Grund war ich jetzt gar nicht mehr müde, trotzdem blieb ich aus Prinzip im Bett liegen.
,,Was ist denn, Ma?"
,,Komm einfach runter!"
Danke für diese äußerst ausführliche Information!
Doch ich wusste, sie würde nicht nachgeben, also stand ich seufzend auf und machte mich auf den Weg nach unten ins Wohnzimmer.

Als ich die Tür öffnete, emfing mich der Duft von Spiegeleiern und frischen Brötchen, meine Mutter deckte pfeifend den Esstisch. Alles sah nach einem gemütlichen Samstagsfrühstück aus.
,,Das Haus brennt also doch nicht? Oder hast du das Feuer inzwischen gelöscht?"
Sie beachtete mich gar nicht.
,,Und Charlie habe ich, soweit ich weiß, auch nicht im Trockner eingesperrt."
Charlie war unserer Kater und meine Mutter liebte ihn über alles. Aber damit hatte es wohl auch nichts zu tun, denn immer noch wurde ich komplett ignoriert.
,,Warum hast mich dann so früh geweckt?"
Endlich drehte sie sich zu mir um.
,,Weil es Zeit zum Frühstücken ist", ewiderte sie und strahlte dabei, als würde sie mir erzählen, sie hätte im Lotto gewonnen. Oder als würde sie mir eine riesige Freude damit machen.
,,Und warum brüllst du dann so herum? Ich dachte schon, es wäre ein Notfall!"
Ok, das hatte ich eigentlich gar nicht gedacht, aber vielleicht weckte sie mich dann nächstes Mal ein bisschen leiser. Ein bisschen später wäre natürlich noch besser, so ungefähr drei Stunden.
,,Wie spät ist es überhaupt?"
,,Halb acht", kam die Antwort.
Ernsthaft?
,,Können wir nicht später frühstücken?"
Diese Diskusion führten wir so ziemlich jedes Wochenende.
Und auch dieses Mal ließ sich meine Mutter nicht umstimmen: ,,Ach was, warum denn? Das ist doch die perfekte Zeit!" Dabei lächelte sie immer noch so übertrieben fröhlich, dass ich mich nur grummelnd auf einen Stuhl fallen ließ.
,,Wo ist eigentlich Elias?", fragte ich.
,,Ich wollte ihn gerade wecken", flötete sie zurück und machte sich auf den Weg zur Tür, als mir noch etwas einfiel: ,,Und Dad?"
Meine Mutter drehte sich zu mir um, ihr Lächeln war plötzlich wie weggewischt und an seine Stelle trat ein fast schon trauriger Ausdruck.
,,Kannst du dir das nicht denken?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ sie das Zimmer.
,,Elias, aufstehen", rief sie durch den Flur, aber diesmal konnte ich an ihrer Stimme hören, dass ihre Fröhlichkeit nur gespielt war.
Ja, ich konnte mir denken, was los war.
Dad war mal wieder arbeiten, am Wochenende. Das gehörte zwar zu seinem Job, aber Ma wusste genau so gut wie ich, dass er sich für heute auch einfach hätte freinehmen können. Er machte ständig Überstunden, obwohl wir das Geld gar nicht so dringend brauchten. Wir waren durchschnittlich reich oder arm, wie man es sah. Und dabei behauptete er, er täte es für unsere Familie.
Ich jedoch hatte schon lange den Verdacht, dass er nur so viel arbeitete, um meiner Mutter aus dem Weg zu gehen.
Selbst Elias musste mittlerweile bemerkt haben, dass zwischen unseren Eltern nicht mehr alles glatt lief. Sie stritten nicht, jedenfalls nicht solange ich im Haus war, sondern schwiegen sich nur an. Als ob das für uns Kinder weniger belastend wäre...
,,Elli! Rate mal, was ich geträumt habe!"
Elias riss mich aus meinen Gedanken über unsere Eltern, doch seine Frage lieferte  mir gleich ein neues Thema zum Nachdenken. War da nicht etwas gewesen? Etwas mit einem Traum über... war ja auch egal. Ich hatte es schon wieder vergessen.
,,Woher soll ich das denn wissen?"
Mein kleiner Bruder ließ sich von meinem genervten Tonfall nicht beirren und begann munter zu erzählen. Ich hörte ihm gar nicht richtig zu und begann stattdessen, mir ein Brötchen zu schmieren.
,,Was hältst du davon, heute in die Bibliothek du gehen?"
,,Hä?"
Ich sah auf.
Meine Mutter sah mich wartend an. Warum war ich heute eigentlich so in meine Gedanken versunken?
,,Ich habe dich gefragt, ob du in die Bibliothek gehen möchtest!", wiederholte sie.
Verwirrt erwiderte ich: ,,Wieso sollte ich das wollen?"
,,Wenn du zugehört hättest, wüsstest du es", gab sie zurück, schob dann aber erklärend hinterher: ,,Ich habe hier zu tun, also könntest du Elias dorthin begleiten?"
,,Und was will er da?"
Dafür hatte meine Mutter nur ein Seufzen übrig.
,,Ella, bitte, tu mir den Gefallen. Ja?"
,,Ok, ok", gab ich schließlich nach, ,,und was soll ich da machen?"
,,Du könntest dir doch auch ein Buch ausleihen!"
Super. Ich würde also den Samstag damit verbringen, Babysitter für meinen Bruder zu spielen. Was wollte man mehr?

Ella - Welt des LichtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt