Innerer Fluch III

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Der Livestream

„Ich weiß, warum du so schmunzelst. Bitte, halt einfach deine Klappe." Mark konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du sitzt hier in meinem Auto, da darf ich doch wohl alles ansprechen, was ich möchte!?" Sean sah ihn böse von der Seite an. „Weswegen streitet ihr euch denn?", er musste einfach nachhaken. Seufzend drehte Sean sich auf dem Beifahrersitz zur Seite und sah zu, wie die Landschaft vorbei flog. „Ich habe sie aus der Sache raus gehalten, immerhin verstehe ich es selbst noch nicht wirklich. Meinst du jemand erlaubt sich einen Spaß mit uns?" Mark wog den Kopf leicht nach links und rechts, eine abwägende Bewegung. „Es würde einen Teil erklären, aber nicht alles." „Du hast recht."

Sean beugte sich vor, um das Radio anzumachen. Ein x-beliebiges Poplied füllte den Wagen aus; an sich machte er es nur, um keine weiteren Fragen über sein Liebesleben beantworten zu müssen.Irgendwann drehte sein Freund jedoch am Volumen-Regler. „Entschuldige wegen gestern." „Entschuldigen, wofür?" Neugierig warf er wieder einen Blick auf den Fahrer. „Meine Fantasie ist wohl gestern mit mir durchgegangen; vermutlich eine Panikattacke gekoppelt mit Halluzinationen. Ich wollte dich nicht in Angst versetzen." „Keine Sorge, den Anruf fand ich durchaus bedrückender."

„Dir ist hoffentlich klar, dass ich was bei dir gut habe.",merkte Mark mit einem breitem Lächeln an, „Immerhin fahre ich für dich an die sechs Stunden, hättest du einen Führerschein..."„Jetzt hörst du dich schon genauso an, wie meine Partnerin. Wenn wir uns gleich noch über deine Mutter streiten ist das Bild vollkommen." „Meine Mutter?!", echote Mark und beide fingen an unbeschwert zu lachen.

„Wenn wir den Mist hinter uns haben, müssen wir eindeutig noch irgendwas unternehmen, immerhin sehen wir uns relativ selten. "Stumm nickte Sean und lehnte sich zurück. Er hatte die vergangene Nacht kaum geschlafen und das nur wegen eines verzerrten Anrufs. Aber jetzt, wo er dieses Chaos nicht mehr alleine erdulden musste, fiel es ihm recht leicht die Augen zufallen zu lassen und an nichts besonderes zu denken. Innerhalb kürzester Zeit schlief er mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt ein. Mark musste schmunzeln.

Er nahm die Hand vom Lenkrad und bewegte sie zum Radio, doch da ließ ihn eine Nachrichtensprecherin innehalten. Statt auszustellen, machte er nun das Radio lauter, aber nur so sehr, dass er Sean nicht störte. „...die YouTuber Jacksepticeye und Markiplier zählen zu den bekanntesten ihres Metiers, doch in ihren neusten Videos sind bedenkliche Nachrichten versteckt, die eine Katastrophe anmaßen lassen, so die Vermutungen. In den ersten drei Sekunden tauchen in jeweils der beiden Videos fünf Wörter auf, welche mehrere Male wiederholt werden, ebenso im späteren Verlauf Zahlen. Noch konnte nichts sinnvolles entschlüsselt werden; fest steht jedoch, dass kleinere Kanäle anfangen von diesem „Virus" angegriffen zu werden. Alle Videos wurden von den besagten Kanälen gelöscht, stattdessen befindet sich jeweils nur noch ein Livestream darauf, der augenscheinlich bei allen fünf derselbe zu sein scheint. Zu sehen ist ein abgedunkelter Raum, mehr jedoch nicht. Ob es nur ein Spaß ist oder eine ernsthafte Bedrohung steht noch nicht fest, in jedem Fall haben sich bereits mehrere Fans dazu bereit erklärt, die Rätsel zu lösen. Ein Statement wurde ebenfalls noch nicht abgegeben..."

Mark stellte es nun doch ganz aus; so bedrückend die Stille auch war, er wollte für einen kurzen Moment nicht mit dem ganzen Mist konfrontiert werden und sich ebenso wenig mit billiger Musik beschallen lassen. Vermutlich besaß die ganze Geschichte eine plausible und nahezu dämlich einfache Erklärung. Prüfend blickte er zu seinem Handy, noch eine gut zwei stündige Fahrt. Er warf einen verstohlenen Blick zu seinem Kumpel rüber und bewunderte seinen friedlichen Gesichtsausdruck; wenn er doch nur so entspannt sein könnte.

...

„Wasn los.", brummte Sean schläfrig und rollte sich auf die andere Seite. „Wenn du nicht gleich aufstehst, hole ich den Gartenschlauch." „Sind wirn schon da?" Und schon lehnte er sich wieder an das Fenster. „Nein, ich dachte mir, ich setze dich an einer Raststätte aus." Doch den beißenden Sarkasmus bekam Sean nicht mit, er war schon längst wieder tief und fest am Schlafen. „Na gut." Mark ging um sein Auto herum, zählte bis drei und riss dann rücksichtslos die Tür auf, an der sein Freund mit seinem vollem Gewicht gegen lehnte.

Er konnte sich geradeso noch mit den Händen abfangen. „Wenn du schon da unten liegst, kannst du mir auch gerne die Füße küssen."„Weswegen sind wir nochmal Freunde?" Er war nun hellwach. „Wegen den Klicks, immer wegen den Klicks." Sean brummelte während sie gemeinsam den Weg zu Marks Wohnung beschritten. Wäre die Lage nicht so ernst, wäre es vermutlich ein verdammt guter Tag.

„Schon mal was von Aufräumen gehört?" „Mich stört es nicht und ebenso wenig Chica. Also wozu?" „Hast Recht, würde ich alleine leben würde es bei mir ebenso aussehen." Sean warf seinen Rucksack auf die Coach. „Ich habe Hunger." Mark warf ihm instinktiv den Telefonhörer zu, was sein Freund mit einem spöttischem Grinsen kommentierte. „Hey.", beschwichtigend hob Mark die Arme an, „Ich bin YouTuber nicht Koch."

Während sie darauf warteten, dass Marks Computer hochfuhr, kauten sie jeweils an ihrer Pizza herum. „Du isst den Rand ja gar nicht." Sean lächelte und erwiderte: „Wenn du beim Kauen sprichst, vergeht einem nun mal der Appetit.", er rempelte ihn scherzhaft von der Seite an, „Nein, alles gut, bin einfach kein Fan von harten Krusten." „Du hast eindeutig keinen Geschmack." Er griff sich einen abgenagten Pizzarand und schob sie ihn sich ebenfalls in den Mund. „Kaust du überhaupt?"

Grinsend wandten sie sich nun ihrem eigentlichen Vorhaben zu. Keiner von ihnen wusste so recht, wie sie anfangen sollten. „Wie wäre es mit einem Vlog? Dann könnten wir erst einmal die Wogen glätten." Mark nickte langsam und öffnete sein Aufnahmeprogramm, hielt dann jedoch inne. „Sollen wir es einfach spontan versuchen?" „Dachte ich so." „Stimmt ja, wieso sollte man so etwas vorbereiten.Entschuldige, ich bin nur ein leichter Perfektionist, da graut es mir ein wenig."

Es dauerte, bis die Beiden mit einer untypischen Ernsthaftigkeit,das Thema durch leuchtet hatten und beteuerten, dass sie mit diesem„Virus" ebenso wenig was zu tun hatten, wie ihre Fans selbst.Natürlich lockerten sie die Stimmung teils wieder auf, jedoch wollten sie keine Späße an sich machen, da, wie sie durch ein Nachrichtenportal erfuhren, weitere Kanäle angegriffen wurden. Und erneut blieb den Betreibern nichts weiter als ein Livestream, welcher nicht herunter genommen werden konnte.

Sie einigten sich darauf, das Video unbearbeitet zu veröffentlichen und sahen zu, wie die sechs Minuten an Inhalt langsam aber sicher hochgestellt wurden. „Deine Internet-Verbindung scheint nicht gerade die beste zu sein.", merkte Sean an und drehte sich auf seinem Stuhl nach hinten. „Dein Haus ist wirklich geschmackvoll,nun ja, wäre es, wenn du mal aufräumen würdest." „Kannst du gerne machen, wenn dir so viel daran liegt."

Dunkelheit. Sie umhüllte die Beiden wie ein Schleier, plötzlich ohne ersichtlichen Grund. „Haben wir einen Stromausfall?", fragte Mark verwirrt und stand auf, ließ sich jedoch augenblicklich zurückfallen, nachdem er sich den Zeh an dem Tischbein stieß. Noch während er fluchte, ging das Licht wieder an. Ein Glitch zerstückelte den schwarzen Monitor, während dieser erneut hochfuhr.Dies passierte auch noch, als das bläuliche Licht das Anmeldefenster ankündigte. Es war jedoch nicht mehr Marks Bild, welches einem entgegen sah.

Dessen Augen weiteten sich in diesem Moment; es war eindeutig sein Doppelgänger. Die grausige Gestalt, die mit ihm durch ein Video sprach, dieselbe, die er gestern im Spiegel ertragen musste... Mehr oder weniger doch er selbst. Betäubt konnten sie ihre Augen nicht vom Monitor nehmen und ebenso erstarrt tippte Mark sein Passwort ein, doch es wurde nicht akzeptiert. Nun beugte Sean sich vor und begann in das Fenster zu tippen: „Hast du mich vermisst?" und schon öffnete sich die Frontpage, welche jedoch vollkommen leer war.

Innerer FluchWhere stories live. Discover now