Innerer Fluch IV

15 1 0
                                    

Ein Scherz

Wie paralysiert bewegten sie den Mauscursor nach unten zur linken Seite hin, doch der Startbutton ließ sich von der Berührung nichts anmerken. Weiterhin blieb der Bildschirm leer. Doch plötzlich stoben die Pixel erneut auseinander; ein weiterer Glitch. Dieselben Dateien wie zuvor zierten den Bildschirm, jedoch wurde bei allen der Titel abgeändert und natürlich waren sie nun mit „Hast du mich vermisst?" betitelt. „Ehrlich gesagt nein.", brummte Sean nervös und zuckte zusammen als eine erneute Störung etwas neues aufblitzen ließ; Marks Titelseite auf YouTube.

Schon wieder blickte ihm sein Doppelgänger entgegen und zwar auf seinem Account-Bild, welches sonst immer von einem Fanart eingenommen wurde. Es war genau das gleiche Bild, wie zuvor beim Anmeldefenster. Wie von Geisterhand wurde die Seite immer weiter hinunter gescrollt, erst langsam, dann so schnell, dass man die einzelnen Videos nicht mehr erkennen konnte, das machte jedoch keinen großen Unterschied, denn allesamt wurden sie durch ein anderes ausgetauscht. Wieder ein annähernd schwarzes Thumbnail; diesmal standen aber keine Zahlen da, sondern wahllos aneinandergereihte Buchstaben.

So plötzlich alles geschah, so abrupt endete es auch. Zusammen starrten sie auf den Monitor, unentschlossen und verängstigt. Sean konnte sich als erster wachrütteln und öffnete die neue Botschaft. Es flackerte unaufhörlich, während eine sachte Melodie ertönte, diese stoppte, mitten im Takt, zur selben Zeit, wie das unentschlossene Licht. Dann wurde es mal wieder schwarz und still. Eine Stimme erklang, während immer mal wieder Buchstaben eingeblendet wurden. Bereits nach den ersten paar Sekunden wurde den Beiden bewusst, dass es sich um eine rückwärts abgespielte Aufnahme handelte. Das Video erreichte sein Ende und ratlos blieben sie zurück.

Mark räusperte sich. „So ein Mist, dass ich keinen Alkohol trinken darf." Sean nickte stumm und dachte ebenfalls darüber nach, wie entspannter die Situation nach ein, zwei - von wegen - nach 10-20 Drinks aussah. Er schluckte und merkte an, dass sie die Tonspur umkehren sollten. „Warte.", Mark umklammerte Seans Handgelenk, „Wir sollten zuerst die anderen beiden Videos analysieren; es wird vermutlich aufeinander aufbauen." Sein Freund nickte langsam, tippte Jacksepticeye in die Suchleiste ein und öffnete das Video mit welchem alles begann.

„Sparen wir uns das Filmchen, gehen wir direkt zu den Kommentaren. Hattest du nicht gestern auch gesagt, dass du ein paar Binärcodes entschlüsselt gefunden hättest?" „Ja, aber es wurde angemerkt, dass sie so keinen Sinn ergeben, es scheint etwas zufehlen." „Nun ja, ist ja irgendwie auch logisch..." Sean blickte verdutzt. „Was meinst du?" „Es ist eindeutig nachvollziehbar, dass das Video auf deinem und meinem Kanal zusammengehören." Sein Freund dachte nach und kam zum selben Schluss. „Verdammt, es ist ja fast schon peinlich, dass ich förmlich mit der Nase darauf gestoßen werden musste."

„Sieh mal." Mark befand sich bereits bei den Kommentaren; jemand der denselben Gedankengang hatte, stellte seine Lösung bereit. „Er hier sagt, dass man die Videos nicht direkt übereinander legen kann, erst ab dem Part in welchem jeweils die Zahlen aneinander gekettet werden, alles davor verweist nur auf den Zusammenhang." Sean nickte langsam und fragte in die Stille hinein:„Hat er bereits eine Übersetzung?" Marks Augen überflogen das Geschriebene und antwortete: „Ich habe dir doch von dem Report aus dem Radio erzählt, da war die Rede von den Wörtern am Anfang,welche stets wiederholt werden. So wie es hier steht sind es in „deinem" Video: Dein, bin, denn, bin und ich. Zusammengefügt mit den anderen aus „meinem" Video, welches ja nun nicht mehr verfügbar ist, ergibt es den Satz: Dein bin ich denn nicht ich bin doch hoffe ich!?"

Es wurde ruhig, doch beinahe gleichzeitig fingen die Beiden zu kichern an. „Das hört sich nicht richtig an. Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, sollte eindeutig Nachhilfe in Anspruch nehmen.", merkte Sean an, hielt jedoch abrupt inne.„Warte, wenn man es umkehrt ergibt es: Ich hoffe, doch bin ich nicht, denn ich bin dein." Aus Marks Gesicht verschwand das Lächeln von zuvor. „Ich war noch nie ein Fan von kryptischen und symbolischen Aussagen. Was ist denn so schwer daran, direkt auf den Punkt zu kommen?"

Sean hörte jedoch nicht mehr zu, denn er durchforstete die Überlegungen nach den Binärcodes, bis er sie endlich fand.„Hier steht, dass die Codes zusammengesetzt ergeben: Der Tod eines Einzelnen, kennzeichnet den Erfolg von vielen. Lass uns direkt weiter machen mit dem neusten Video." Die Tonspur wurde von ihnen herunter geladen und in ein Bearbeitungsprogramm geschleust.Geduldig wartend ließen sie die Augen nicht vom Bildschirm, als befürchteten sie einen erneuten Aussetzer. Doch alles funktionierte so, wie es sollte und sie drückten auf den Abspielbutton. Sean erblasste, als ihm bewusst wurde, wessen Stimme überhaupt sprach.

In meinem Inneren war ich mir einer stürmischen Sorglosigkeit bewusst. Pause. Ich erkannte nicht nur, dass mein natürlicher Leib weiter nichts als ein Dunstkreis und eine Ausstrahlung einiger von den Kräften ist, aus denen mein Geist zusammengesetzt ist. Pause. Schnell ließen die Schmerzen nach und ich kam wieder zu mir selber, als wenn ich von einer schweren Krankheit genesen wäre. Pause.Außerdem hatte das Böse diesem Körper einen Stempel von Missgestalt und Verfall aufgedrückt.Pause. Und ich begann eine Gefahr zu wittern, dass bei längerer Fortdauer dieses Zustandes vielleicht das Gleichgewicht meiner Natur für immer umgeworfen werden könnte. Pause.Ich sah, was ich sah -ich hörte, was ich hörte - und meine Seele wurde krank davon.Längere Pause. Mein Leben ist bis in seine Wurzeln erschüttert. Kein Schlaf kommt mehr zu mir, tödlichste Angst sitzt bei mir in jeder Stunde des Tages und der Nacht."

Die letzten Wörter schienen geradezu nachzuhallen, die von Seans Stimme getragen wurden.Umso blasser Marks Freund wurde, desto röter verfärbten sich seine eigenen Wangen. Wut zierten seine Züge. Erbost stand er auf und lief wie ein aufgescheuchtes Huhn umher. „Möchtest du mir vielleicht etwas sagen?" Keine Antwort. „Findest du es etwa lustig mich zu verängstigen? Verdammt nochmal. Kannst ruhig Stolz auf dich sein,deine Schauspielkünste waren hervorragend." Erzürnt stampfte Mark zur Tür und knallte diese, nachdem er heraustrat, ins Schloss zurück. Sean konnte sich immer noch nicht bewegen.

Natürlich wusste er nicht, wie es sein konnte, dass diese Aufnahme von ihm existierte.Zusammen geschnippelt konnte sie auch nicht sein, schließlich würden die einzelnen Fragmente unterschiedliche Betonungen haben. Es gab somit nur eine logische Erklärung. Er hörte eine weitere Tür zufallen und es dauerte zu realisieren, dass es die Haustür war.Schnell rappelte sich der YouTuber hoch und rannte hinterher. Doch da ergriff ihn plötzlich ein fürchterlicher Schmerz an der rechten Schläfe. So blieb er auf dem Treppenabsatz stehen und krümmte sich.

„Ein Schritt nach dem anderen.", murmelte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen,während seine Beine sich klobig ihren Weg hinunter bahnten. Übelkeit stieg auf, noch bevor er den Boden erreicht hatte. „Verdammt."Seine Sicht schien sich immer stärker zu schmälern. Sean stoppte im Flur, seinem Spiegelbild gegenüber, welches ihn geradezu spöttisch mit seinen Blicken bedachte. Er lehnte sich an die Wand und rutschte sacht herab, denn unendliche Müdigkeit kam zu den Schmerzen hinzu und sich fallen zu lassen musste ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass man aufgab. Hätte er seine Augen noch länger geöffnet gehabt, so hätte er gesehen, wie sich das Antlitz im Spiegel langsam veränderte oder war es doch sein Selbst?

Innerer FluchWhere stories live. Discover now