Ein Toter kommt selten allein
"Jack! Verdammt nochmal! Steh auf!" Verwirrt blinzelnd drehte Sean seinen Kopf auf die andere Seite. Plötzlich wurde ihm die Decke vom Leib gerissen, so dass er die Kälte, die von der Tür hineinströmte, auf seiner Haut spürte. "Kann das nicht bis später warten?", maulte der grün haarige YouTuber, während seine Augen erneut zufielen. "Felix ist tot! Und du liegst hier, wie ein gottverdammtes arrogantes Schwein..." Er konnte hören, wie Mark schluckte. Die Nachricht musste ihn genauso hart getroffen haben, wie Sean in diesem Moment; dieser war jedoch zu überfordert um es tatsächlich zu realisieren.
Aus den Augenwinkeln erblickte er seinen Freund, welcher die Wand hinunter rutschte, um seine Stirn in purer Verzweiflung in seine Hände zu betten. Es schmerzte ihn, Mark so sehen zu müssen. Sean sprang förmlich auf, verhedderte sich in der Decke, so dass er auf sein lädiertes Bein fiel, was er mit einem schmerzerfüllten Grunzen kommentierte. "War es ein Autounfall?" Er antwortete nicht. "Irgendetwas gesundheitliches?" Keine Antwort. "Verdammt nochmal, rede mit mir!" Aber eine Reaktion blieb aus, so blieb Sean nichts anderes übrig, als es alleine herauszufinden; immerhin sprachen wir hier von dem berühmtesten YouTuber überhaupt, da dürfte es wohl kaum schwer werden sich zu informieren.
Er humpelte ins Badezimmer, um seinen Freund nicht länger so leiden sehen zu müssen, achtete aber darauf, sein Handy mitzunehmen. Auf diesem öffnete er das erstbeste Nachrichtenportal. Augenblicklich sprang ihm eine dick gedruckte Überschrift entgegen: Umstrittener YouTuber erhängt im Livestream. Nun war Sean derjenige, der schluckte, um den faustgroßen Kloß aus seinem Hals zu kriegen. So schwer es ihm auch fiel, er zwang sich dazu weiterzulesen, auch wenn er insgeheim bereits wusste, was mit seinem Kollegen geschah.
Für Fans in der ganzen Welt dürfte der heutige Morgen (gemessen an der New Yorker Zeit) ein schier unbegreifliches Drama sein. Felix Arvid Ulf Kjellberg (besser bekannt als "Pewdiepie") war und ist nach wie vor tot zu sehen und zwar in den Livestreams, die auf der Plattform "YouTube" vorzufinden sind. Rund 50% der Kanäle wurden von einem sogenannten "Virus" infiziert, dessen Ursprung auf die Kanäle von "Jacksepticeye" und "Markiplier" zurückzuführen ist. Die Betreiber versuchen seit mehreren Stunden diesen Livestream, der auf allen angefallenen Kanälen derselbe zu sein scheint, runter zu nehmen, doch offenbar stellt sich dies als ein unmögliches Verfahren heraus. Eine Frage beschäftigt nun die gesamte Welt: Sind "Jacksepticeye" und "Markiplier" noch am Leben? Und inwieweit sind die Beiden in diese Geschichte verwickelt?
"Das wüsste ich auch gerne...", brummte er ins Nichts und überflog rasch den Rest des Artikels. Marks Vermutung bestätigte sich, dass es Zitate aus "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" waren; zudem wird ausdiskutiert was das Entschlüsselte: "Ich hoffe, doch bin ich nicht, denn ich bin dein" in diesem Kontext zu bedeuten hatte. Die meisten Überlegungen verfolgten den Gedanken eines Doppelgängers, aber nicht eine zweite Person, sondern ein zweites Leben. Somit wurden sie als krank abgestempelt, als Menschen mit multipler Persönlichkeit und leider konnte er dem ganzen nichts entgegensetzen, schließlich passte es genau ins Schema.
Eine zuknallende Tür ließ ihn aufhorchen. "Mark!?", rief er fragend und rappelte sich vorsichtig auf. Im Schlafzimmer befand sich nur Chica, die nach dem gestrigen Vorfall etwas hinkte. Mit einem Jaulen rannte sie nach unten, so gut es eben ging, um nicht mit dem Menschen in einem Raum sein zu müssen, welcher ihren Besitzer bedroht und sie getreten hatte. "Es tut mir so Leid.", hauchte er in die Leere des Raums; logischerweise ungehört. Mit schnellen Schritten machte er sich auch auf den Weg nach unten.
Die Haustür war weit geöffnet und man hatte eine perfekte Sicht auf die Straße und den Bürgersteig, welcher sich geradezu an die Treppe der Front anschmiegte. Und mitten auf dem schwarzen Asphalt, der kaum befahrenen Straße, saß Mark, resignierend im Schneidersitz. Ohne nachzudenken rannte Sean sofort los und zerrte an der Schulter seines Freundes, während er Flüche in seinem starken irischen Akzent von sich gab, die sein gegenüber als wahnsinnig deklarierten. Und vermutlich hatte er schlicht und ergreifend Recht.
"Verstehst du denn nicht? Es ist alles unsere Schuld. Wir sind Schuld daran, dass jemand sterben musste... Wenn wir sterben, so wird auch unser verfluchter Doppelgänger sterben. Ich kann das nicht." Just in diesem Augenblick fuhr ein Auto um die Ecke, dessen Fahrer sah jedoch den jungen Mann, der sich auf der Straße befand und bremste ab. Wütend kurbelte er sein Fenster hinunter und brüllte: "Was soll das werden, wenn ihr fertig seid? Geht doch für euer Kaffekränzchen in ein Café!" "Mark!", drängte Sean nervös und zerrte weiter an seiner Schulter, doch er war muskulöser, größer und schlichtweg schwerer als er. So blieb ihm nur eine Möglichkeit: Reden.
"Ich schwöre dir, dass wir eine Lösung finden werden. Du bist mitunter mein wichtigster Freund, deswegen hasse ich mich auch, das jetzt zu sagen. Wenn du jetzt einfach... gehst." Das eigentliche Wort, wollte ihm nicht über die Lippen gehen, "Dann lässt du mich im Stich und bist ein verfluchter Egoist." Ein weiteres Auto kam zum Anhalten, während Mark nach wie vor einfach da saß und scheinbar ins Leere blickte. Sekunden verstrichen, bis er sich endlich aufrappelte, dabei die Hand seines Freundes entgegennahm und sich in eine Umarmung ziehen ließ. "Hey, fummeln könnt ihr auch woanders." Der alte Mark kam zum Vorschein, als er diesem Kerl mit halber Glatze und verwaschenen blauen Augen den Mittelfinger zeigte.
Sean ging voraus und sah deswegen auch nichts von dem kleinen Unfall der passierte, erst das dazugehörige, geräuschvolle Aufeinanderprallen ließ ihn umkehren. Eine Radfahrerin hatte Mark hinter den parkenden Autos nicht gesehen und prallte so ungehindert in ihn hinein. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf an dessen Schläfe ein leichtes Blutrinnsal zu sehen war, während sein rothaariger Freund mit dem Gesicht nach unten lag. "Es tut mir so Leid.", beteuerte das junge Mädchen und stand vorsichtig auf, sie schien weitestgehend unverletzt zu sein. Doch bei Mark konnte er sich nicht sicher sein.
"Geht es ihnen gut? Es tut mir so Leid, ich habe ihn nicht gesehen." Mit dem letzten Satz wandte sie sich an Sean, welcher erstarrt zu Boden blickte. Nicht weil sein Freund keine Regung zeigte, sondern... "Ich kann ihnen meine Kontaktdaten geben." Aus einer ihrer Manteltaschen fischte sie einen Kugelschreiber und eine Visitenkarte für irgendeinen Floristen heraus. Während sie schrieb, beteuerte sie unaufhörlich, dass es ihr Leid täte und ihr so etwas noch nie geschehen sei. Sean nickte nur und stammelte endlich als Antwort: "Es war nicht ihre Schuld." Rote Haare, dachte er.
Japsend richtete sich der elendige Haufen auf und brummte zutiefst empört und in einer tiefen Stimme, die einem durchs Mark ging: "Auf wessen Seite stehst du eigentlich Sean!?" Er spuckte ihm seinen Namen förmlich vor die Füße. Diese Augen hätten kälter nicht sein können. Tiefschwarz und mit einer widerlichen Intensität; sie bohrten sich durch Seans Körper in sein Herz hinein. Und da war es wieder, das ins Gesicht geschnittene Lachen, von einem Wagenknochen zum nächsten, nur dass es diesmal verdorbener und verwester aussah, da sich Hautfetzen bereits abgelöst hatten. "Na Jackaboy, hast du mich vermisst?"
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Innerer Fluch
FanfictionEines morgens wacht Jack auf und stellt fest, dass er sich benebelt fühlt und sich in keinster Weise an die vergangene Nacht erinnern kann. Hinzu kommt auch noch, dass er auf seinem Kanal ein kryptisches Video findet, welches rätselhaft und zugleich...