- 23 -

642 38 2
                                    

Nachdem ich Shawn aufgebracht auf der Straße stehen gelassen hatte, lief ich weinend unter den Blicken einiger Passanten durch die Straßen von New York. Meinen Koffer zog ich dabei unsanft hinter mir her. Nach einer Weile blieb ich stehen, wischte mir die nassen Wangen mit dem Saum meiner Jacke ab und sah mich um. Es war kalt und ich wusste sowieso nicht wo ich war, geschweige denn, zu wem ich nun gehen sollte. Deswegen setzte ich mich in ein kleines Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich legte meinen Kopf in meine Hände und atmete tief ein und aus. Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Wie konnte ich nur so dumm sein und denken, dass derselbe Shawn, der mich damals für seinen Job verließ auf einmal wieder angekrochen kommen würde. Natürlich ging es ihm nur um den Sex. Und für so ein Schwein hatte ich Nate verlassen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich mich jetzt in seine Arme werfen und ihn nicht mehr loslassen. Tja, Lyra, dafür ist es aber ein bisschen zu spät. Mein Handy begann zu vibrieren und ich fischte es aus der Tasche meiner Jacke. Jedoch nur um es sofort wieder darin verschwinden zu lassen. Shawn.
Was wollte er mir bitte jetzt noch sagen? Egal was es war, ich wollte es definitiv nicht hören.
Die Minuten verstrichen und fühlten sich dabei wie Stunden an. Shawn rief immer und immer wieder an, aber ich ignorierte seine Anrufe oder lehnte sie direkt ab. Irgendwann beschloss ich, eine Kleinigkeit zu essen und bestellte einen Kaffee und ein belegtes Brot. Auch wenn mich nicht nach Essen zumute war, tat es gut, meinen leeren Magen zu füllen. Die Kellnerin, die mir mein Essen brachte, warf mir einen mitleidenden Blick zu und sagte: "Er ist es sicher nicht wert." und stellte meine Bestellung vor mir ab ehe sie wieder davonging, um weiter zu arbeiten.
Ich musste mich kontrollieren, damit ich nicht erneut in Tränen ausbrach. Ja, Shawn war es nicht wert. Definitiv nicht. Aber Nate war es wert gewesen. Und ich hatte ihn weggeworfen wie ein Stück Müll. Ich war stolz genug, um ihn nicht anzurufen. Auch wenn ich es zu gern getan hätte. Mir war sowieso bewusst, dass er mich nicht zurücknehmen würde. Und es war auch besser so, denn er verdiente jemanden, der ihn glücklich machte und ich konnte dieser jemand eben einfach nicht mehr sein.
Erneut klingelte mein Handy.
"Was?", zischte ich in das Mikrofon, nachdem ich abgenommen hatte.
"Gott sei Dank, Lyra! Wo bist du?", fragte Shawn erleichtert am anderen Ende der Leitung.
"Als ob dich das interessieren würde", antwortete ich und gab mein bestes den Schmerz aus meiner Stimme zu vertreiben.
"Lyra, bitte! Du kennst dich in New York nicht aus. Du hast nicht mal einen Schlafplatz. Sag mir, wo du bist."
Ich schwieg. Er hatte Recht. Und ein Hotel wollte ich mir um ehrlich zu sein nicht nehmen, denn das Geld konnte ich anderswo besser gebrauchen.
"Na schön. Ich schick dir den Standort." Ohne ein weiteres Wort legte ich auf und fuhr mir durchs Haar. Ich wollte Shawn nicht sehen, aber realistisch betrachtet blieb mir nunmal keine andere Möglichkeit. Ich schickte ihm den Standort und nahm mir die nächsten 10 Minuten Zeit mich zu sammeln, um nicht erneut in Tränen auszubrechen, wenn ich ihn sah, ehe ich zahlte und mich auf den Gehweg stellte, um auf Shawn zu warten. Ich konnte nicht sehr weit weg von seinem Apartment sein, denn er war bereits 5 Minuten später hier. Ich hievte den Koffer ins Auto und stieg ohne ein Wort zu sagen ein.
"Lyra es tut mir-", setzte er an als er  den Wagen startete.
"Lass stecken, Shawn", brachte ich ihn zum Schweigen und starrte für den Rest der Fahrt angestrengt aus dem Fenster. Er parkte das Auto in einer Tiefgarage und besaß sogar noch die Freundlichkeit, mir den Koffer abzunehmen. Wow, Shawn. Das bringt dir jetzt auch nichts mehr.
"Du kannst im Bett schlafen, wenn du willst", bot er an als er die Tür aufschloss.
"Ich nehm das Sofa", antwortete ich mit gepresster Stimme, während ich meinen Blick durch die Wohnung wandern lief. Sie war ordentlicher als ich es mir vorgestellt hatte, aber auch nicht wirklich geputzt. Die Wohnung war sehr offen, denn zu meiner linken befand sich die kleine Küche und rechts davon stand eine Couch und ein Fernseher. Die Wände waren mit Backsteinen gepflastert und relativ hoch. Aus dem Wohnbereich heraus führten zwei Türen, wahrscheinlich eine für das Schlafzimmer und eine fürs Bad. Die Wohnung war nicht sonderlich groß, aber sie gefiel mir trotzdem gut. "Brauchst du noch was zu essen oder so?", fragte Shawn, als er mit einer Decke aus einem der zwei anliegenden Räume kam.
"Nein danke."
"Okay..."
Er sah mich für einen kurzen Moment an. "Dann... Gute Nacht."
Ich erwiderte nichts und er verschwand hinter einer Tür. Erleichtert atmete ich aus und ließ mich aufs Sofa sinken und verharrte dort einen Moment ehe ich nach meinem Koffer griff, um mich bettfertig zu machen. Ich hatte so lange in dem Café gesessen, dass meine Glieder wehtaten und ich war froh über das erstaunlich weiche Sofa. Der Tag war emotional so anstrengend gewesen, dass ich am liebsten sofort eingeschlafen wäre, aber natürlich konnte ich nicht. Die Gedanken rasten in meinem Kopf mit einer Geschwindigkeit, dass ich beinahe selbst nicht mehr hinterher kam.
Ein Blick auf mein Handy verriet mir nach gefühlten Stunden, in denen ich mich nur hin und hergewälzt hatte, dass es bereits ein Uhr in der Nacht war. Genervt stöhnte ich auf und richtete mich auf. Ich wollte gerade aufstehen, um etwas zu trinken, als Shawns Tür aufging.
"Lyra?"
"Ja", antwortete ich knapp.
"Wieso bist du noch wach?", wollte er wissen und kam näher.
"Dasselbe könnte ich dich fragen."
Er blieb kurz still, bevor er sagte: "Ich kann nicht schlafen. Heute ist zu viel passiert."
Ich schnaubte beinahe empört. Gott, Shawn, du Armer. Du hast einem Mädchen das Herz gebrochen, welches dir nichts bedeutet. Cry me a river.
"Es tut mir wirklich leid, Lyra. Ganz ehrlich."
"Du wiederholst dich, Shawn", gab ich kühl zurück.
"Ich will einfach nur, dass du weißt, dass du mir trotzdem wichtig bist, okay, Lyra? Und das wirst du auch immer sein."
Ich sagte nichts und Stille füllte den Raum.
"Und ich wollte nicht, dass es falsch rüberkommt, aber-"
"Ist es aber, Shawn. Verdammt falsch und deine Entschuldigungen bringen mir jetzt auch nichts mehr."
Ich konnte Shawns verletzten Blick im falen Licht sehen.
"Lyra, ich will dich trotzdem in meinem Leben. Können wir nicht einfach nochmal alles auf 0 stellen?", bat er und klang beinahe verzweifelt.
"Aber wie oft denn noch, Shawn? Bis wir endlich beide schnallen, dass es für uns kein Happy End gibt. Egal, was für eins."
Diesesmal schwieg er, sichtlich getroffen von meinen Worten.
"Gute Nacht", murmelte er ein zweites Mal an diesem Abend und schloss leise die Tür hinter sich.

Tides [german] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt