Kapitel 2

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Dezember 2015

Gerade noch pünktlich

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Gerade noch pünktlich. Ich drückte die doppelflügelige Schultür auf und rutschte beinahe auf dem eklig braunen Schneematsch aus, der im Eingang des Kunsttraktes lag. Für den Bruchteil einer Sekunde musste ich mich ausbalancieren, dann blickte ich mich verstohlen um. Eigentlich hätte ich mir das sparen können, denn weder im vergangenen Jahr noch heute nahm überhaupt irgendein Mensch in meiner nächsten Umgebung eine Notiz von mir. Ich war Luft. Vollkommen unsichtbar in der Welt meiner Mitschüler. Dabei kannte ich einige von ihnen mit vollständigem Namen, hatte in manchen Kursen sogar gemeinsame Projekte mit ihnen erarbeitet. Insgeheim wünschte ich mir, sie würden mehr in mir sehen, als diejenige, die ganz nützlich war, wenn es darum ging, Aufgaben in Algebra zu lösen.

„Bella!" Meine beste Freundin Vicky lief auf mich zu. Sie packte mich am Arm, und zog mich aufgeregt mit sich in Richtung der Spinde. Sofort wichen ihr einige Schüler aus. „Du glaubst nicht, was passiert ist!"

Triumphierend sah sie mich an. Ihre Tasche rutschte ihr in die Armbeuge und Vicky begann, an dem klemmenden Reißverschluss herum zu nesteln. Fragend hob ich die Brauen. Mit einem schwungvollen ‚ZAP' gewann Vicky den Kampf mit dem Reißverschluss und zerrte einen Zettel aus ihrer Tasche heraus. Ich brauchte gar nicht hinzugucken, denn ich wusste auch so, worum es sich handelte. Natürlich hatten Vickys Eltern die Einverständniserklärung für die Skifahrt unterschrieben. Meine Mutter hätte mir einen Vogel gezeigt, wäre ich mit der Idee solch einer außerschulischen Aktivität nach Hause gekommen. Bis auf meinen Dad hatten sich alle in unserer Familie stets um herausragende Noten, besonders in den wissenschaftlichen Fächern, bemüht. Seine künstlerische Ader passte so gar nicht ins Schema, aber genau das mochte ich so gerne an ihm.

„Was sagst du dazu?" Vickys meerblaue Augen strahlten mit dem veralteten, glitzernden Homecoming-Plakat, das an der Vitrine hinter ihr klebte, um die Wette.

Ich legte die Hand an meinen Spind und starrte das Zahlenschloss an. Am liebsten hätte ich meine beste Freundin mit einer Kette an einer der im Flur verteilten Säulen gefesselt und ordentlich festgezurrt. Scham überkam mich, weil ich wusste, wie egoistisch es war, die eine Woche nicht alleine verbringen zu wollen. Diese Fahrt war wichtig für sie.

Vicky wartete noch immer auf eine Reaktion meinerseits. Also ließ ich von meinem Spind ab und wandte mich ihr wieder zu. Mit dem bestmöglichen Enthusiasmus sagte ich: „Es ist toll, dass du mit darfst. Ich freue mich für dich."

„Es wäre so toll, könntest du auch mitkommen.", sagte Vicky traurig, und drehte an den Rädchen ihres Zahlenschlosses. Die Tasche baumelte in ihrer Armbeuge, während sie ihren Spind aufklappte und die Bücher tauschte. Ich lehnte mich derweil mit dem Rücken gegen meinen Spind und linste zu meiner besten Freundin herüber. Sie war Cheerleaderin und bei jedem Basketballspiel unseres Schulteams dabei. Früher hatte ich für die Schülerzeitung geschrieben und Vicky war für die Fotos zuständig gewesen. Da hatten wir uns kennengelernt. Allerdings hatte sich Vicky nach einem Jahr mehr auf das Cheerleading konzentrieren wollen. So kam es, dass wir beide schließlich bei der Schülerzeitung aufgehört hatten. Stattdessen war ich neben meinem geliebten Mathe-Club zusätzlich dem Rhetorik-Club unserer Schule beigetreten. Wirklich Spaß machte das ohne Vicky nicht, aber ich war beschäftigt und konnte etwas lernen, so wie es sich gehörte.

Einhundert Meilen von dir entferntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt